Wenn ich meine Meinung vertrete, bin ich selbstbewusst. Wenn ich über sexualisierte Gewalt spreche, bin ich selbstbewusst. Wenn ich Freundinnen und Freunden Rat gebe, wie sie mit Situationen, in denen sie bedrängt werden, umgehen können, bin ich selbstbewusst. Bis zu dem Tag, an dem ich selbst belästigt werde und mein Selbstbewusstsein in den Keller rutscht.
Von sexueller Belästigung und dieser verdammten Ohnmacht
Ich sitze auf der Stufe eines Gebäudes zur Straße hin und esse ein Sandwich. Mittagspause. Nach einigen Minuten kommt eine Gruppe junger Männer vorbei. Einer von ihnen beugt sich mit seinem Oberkörper weit hinunter und grinst breit. Ich runzle die Stirn und verstehe erst zu spät, dass er mir unter mein Kleid schauen wollte. Ich gucke ihn verstört an. Er zieht eine Grimasse. Als die Gruppe weitergeht, tue und sage ich nichts. Ich denke nur hektisch: „Was mache ich jetzt? Mache ich überhaupt was? Was sage ich? Sage ich überhaupt was?“
Nichts passiert. Mein Mund bleibt zu. Meine Stimme stumm. Meine Gedanken laut. Ich denke an meine Schulzeit zurück und an Sätze wie, “Jungs, die einen ärgern, wollen nur Aufmerksamkeit”, “Was sich neckt, das liebt sich“, „Wenn Jungs gemein sind, dann mögen sie einen.“ Das sind die Sätze, die jungen Mädchen eingetrichtert werden. Wenn es dann doch mal über das „Necken“ hinausgeht, sollen sie sich bloß nicht auf das niedere Niveau herab lassen. „Ignorier ihn einfach!“
Die Männer gehen einige Meter weiter, bevor sie an einer roten Ampel stehen bleiben. Derjenige, der mir unter mein Kleid schauen wollte, zieht plötzlich sein Shirt bis zum Kinn hoch und steht oberkörperfrei an der Straßenecke. Er richtet seine Nacktheit direkt an mich. Dann beginnen alle vier laut nach mir zu pfeifen.
Zu brav
Ich frage mich angestrengt, wie ich meine Contenance bewahren kann. Wie ich mich ohne „Ihr Wichser“ zu rufen, trotzdem positionieren kann. Wie ich sie wissen lassen kann, dass ich nicht alles mit mir machen lassen muss, nur weil ich alleine und sie zu viert sind. Nur weil sie älter sind als ich. Nur weil sie Männer sind und ich eine Frau bin.
Sätze, die mir in den Sinn kommen sind: „Lass das“ oder „Halt den Mund!“, na toll. Dann käme ich mir vor wie ein motziges Kleinkind, das man gerade beleidigt hat. Das wäre lächerlich und in dem Kopfkino, das ich habe, würden die Männer in schallendes Gelächter ausbrechen. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht. Doch wie sieht eine Reaktion, die der Situation angemessen wäre aus?
Ich wollte diesen Männern den Mittelfinger zeigen, was anderes fiel mir einfach nicht ein. Er würde „Fuck you“ rufen, ohne, dass ich Worte benutzen müsste. Aber statt das zu tun, habe ich allen Ernstes darüber nachgedacht, ob diese Reaktion nicht ein bisschen übertrieben wäre. Den Mittelfinger jetzt auf offener Straße zu zeigen, sowas macht man doch nicht. So wurde ich erzogen. Man sagt Worte wie „Fick dich“ und „Wichser“ nicht.
Das, was die Männer da machen, das macht man nicht. Und dass genau diese Handlungen auch andere Reaktionen meinerseits erfordern, zu dem Gedanken habe ich es erst zu spät geschafft. Frauen werden oft als hysterisch oder aufbrausend abgestempelt, von genau denen, die ihnen die meisten Gründe liefern, mal so richtig wütend zu werden.
Ich wünschte, ich hätte etwas gegen das Verhalten dieser Männer gemacht. Dann würden sie beim nächsten Mädchen, dem sie begegnen vielleicht überlegen, ob sie den Konflikt wirklich nochmal wollen. Vielleicht wären diese Typen dann ausgerastet. Dann wären es vier gegen mich. Vielleicht hätte ich ein paar Passanten auf meiner Seite, vielleicht wäre es ihnen aber auch egal gewesen. Angst gepaart mit dem Gefühl der Ohnmacht ist eine schlechte Mischung und wird es immer sein. Die Ampel wird grün, die Typen gehen über die Straße und ich esse den letzten Bissen meines Sandwiches und gehe zurück.
Mehr Mut
Früher lernte ich, dass ich keinen Gegenangriff starten soll, aber mich aktiv wehren darf. Aber wo genau ist jetzt die Grenze zwischen Gegenangriff und „sich wehren?“, und wenn ich mich gewehrt hätte, hätte das nicht für meinen Gegenüber automatisch einen Gegenangriff bedeutet, weil ich offensiv gegen das, was er wollte, vorgegangen bin?
Als Frau höre ich viel von diesen Theorien. Kein Gegenangriff, jaja – logisch. Man will ja nicht zur Täterin werden sondern sich nur selbst vor den Tätern verteidigen. Das nächste Mal will ich mich trauen und mir soll es egal sein, ob die Arschlöcher das als Gegenangriff oder Verteidigung sehen.
Jede Frau in meinem Bekanntenkreis und wahrscheinlich jede Fremde, der ich auf der Straße, der Bahn oder im Restaurant begegne, kann ihre eigenen Erfahrungen mit sexueller Belästigung erzählen. Auch meine sind weitaus umfangreicher, als nur dieses Erlebnis an dem besagten Tag. Berichte davon, wie Frauen sich gewehrt haben, gibt es wenige.
Schluss mit der Nettigkeit
Aber ich will mich endlich trauen. Ich will, dass sich mit mir alle Frauen und Männer trauen, etwas gegen so ein Verhalten zu tun. Ich will, dass die Sorge um Höflichkeit und Anstand nicht die erste ist in solchen Situationen. Ich darf Sachen wollen, ich darf sagen, was ich will und vor allem, was ich nicht will und ich darf schreien, ohne dass ich als hysterische Zicke gelte. Wenn jemand die Reaktion von Frauen auf sexuelle Belästigung als „Hysterie“ und „übertrieben“ abstempelt, dem sei gesagt: Fick dich. Das gilt auch für alle, die meinen, man müsse sich noch glücklich schätzen, wenn einem so etwas passiert, denn das hieße ja, man gelte als attraktiv. Sexuelle Belästigung hat nicht das Geringste mit Komplimenten zu tun, sondern damit, Macht zu demonstrieren. Oder wird irgendeine Frau ihren Enkelkindern jemals erzählen, sie habe ihren Mann, mit dem sie glücklich verheiratet ist, beim Catcalling kennengelernt?
Ein „Lass das“ löst das Problem nicht. Ich wünschte, ich hätte wenigstens den Mittelfinger gezeigt. Oder beide, wenn ich schon zwei habe. So einem Niveau kann man eben nicht mit einem sehr emotionslosen „Das gehört sich nicht“, effektiv begegnen.
Die sanftmütige, ruhige nicht zu zickige und aufbrausende Variante ist die, die jungen Mädchen beigebracht wird. Das ist aber nicht die Variante, mit der Arschlöcher Grenzen akzeptieren. Die wissen nämlich ganz genau, dass das was sie tun, sich nicht gehört. Der Punkt ist doch, dass sie es trotzdem, oder genau deshalb tun. Und wenn das kein Grund ist, „Fuck you“ rauszuschreien, dann weiß ich auch nicht mehr weiter.
Beitrag: Deborah Schmitt
Foto: thought catalog / unsplash