Wer noch einmal hinter unsere Matrix schauen und die Trugbilder des neuen Realen in ihrer noch rohen Form betrachten will, findet interessanterweise Halt bei zwei bald 60 Jahre alten Filme. Alfred Hitchcocks surrealistisches Meisterwerk Vertigo – aus dem Reich der Toten von 1958 spielt mit Dopplungseffekten, Trugbildern und Déjà-vus. Mit scheinbar aus dem Totenreich zurückkehrenden Geliebten, welche sich in Fieberträumen ankündigen. Dazu passt das Vertigo, der Filmtechnik der Zeit entsprechend, kaum wirkliche Außenszenen kennt. Kim Novak und James Stewart spielen vor großen Leinwänden, auf denen per Rückprojektion Wälder, Berge und das Meer simuliert werden. Eine so magische, verwunschene wie albtraumhafte Welt gleich tut sich auf. Nur braucht uns hier – anders als in Matrix – der Film noch als Komplizen. Der Schwindel ist leicht zu erkennen. Lässt man sich darauf ein, erkennt man – so fake diese Filmlandschaft auch sein mag, sie ähnelt doch sehr unserer meist über Displays und Bildschirme erlebten Wirklichkeit von heute. Vertigo lässt uns auf der Schnittstelle von Bewusstem und Unbewusstem nach Innen wie nach Außen schauen – in unser tiefsten Inneres wie auf die virtuelle Welt von Morgen. Ein merkwürdig kolorierter Abglanz tut sich auf, dessen Ton und Bild auseinanderzudriften schein, dessen Horizont, so fern er scheinen mag, doch nur wenige Meter hinter den Schauspielern endet. Das alles erinnert stark an ein Display – auch wenn auf diesem die Farben brillianter sind. Vertigo repräsentiert die Essenz der Traumfabrik des Kinos. Aber mehr noch die zunehmende Virtualität des Realen, in der wir heute leben, in der Traum und Wirklichkeit verschwimmen, die Hitchcock beobachtbar macht.
In einer wundersamen filmhistorischen Volte wird dieses Prinzip 1962 vom Essay-Filmer Chris Marker in seiner Vertigo-Hommage La Jettée weiter gedacht. Ein Mann wird von einer Erinnerung aus seiner Kindheit verfolgt: Eine wunderschöne Frau am Flugplatz von Orly. Zu Beginn von La Jettée hört man einen Sprecher im Off sagen:
On this particular sunday the child who’s story we are going to tell, was bound to remember the sight of a frozen sun (…) and of a womens face. Nothing tells memories from ordinary moments. Only afterwards do they claim rememberance – on account of their scars.
Diese mächtige Kindheitserinnerung einer gefrorenen Sonne und des Gesichts einer Frau, wächst sich zum Trauma aus, bildet eine Wunde in seinem Bewusstsein. Erst Jahre später, als die Welt von einem nuklearen Holocaust verwüstet wird und die letzten Menschen unter der Erde leben, fällt ihm ein: neben der Frau starb an diesem Tag ein älterer Mann. Der Protagoist reist in seine Vergangenheit und begegnet der Frau. Beide verlieben sich. Als er sie, nach verschiedenen Irrungen, am Flughafen von Orly wieder entdeckt und zu ihr rennt, wird er niedergeschossen. Im Sterben sieht er ein Kind und erkennt: der Mann aus seiner Kindheitserinnerung, der hier unter der gefrorenen Sonne fällt, ist er selbst – ebenso wie der kleine Junge. Soweit die Logik des Zeitreisens.
Das geniale an La Jettée ist, das der Film alleine aus Fotografien besteht und bis auf eine kurze Ausnahme, den Augenaufschlag der Geliebten nach einem tiefen Schlaf, auf Bewegtbilder verzichtet. Der Filmkritiker A.O. Scott bezeichnete La Jetée in der New York Times als „philosophische Untersuchung der Art und Weise, wie unser Geist Zeit wahrnimmt oder sogar konstruiert“. Neurologen wüssten, das die Kontinuität, die wir meinen, in unserer Erinnerung zu erleben, eine pure Konstruktion sei. Vielmehr erinnerten wir Bilder, die unser Hirn nachträglich verknüpft – so wie die Einzelbilder auf der Filmrolle. La Jetée sprengt diese Einheit der Bilder, des Klangs, der Sprache und macht die Brüche sichtbar. Wie Vertigo begegnen wir unserem False-Memory-Syndrome in der Form avancierter Trugbilder und Déjà-vus.
Es gibt allerdings einen interessanten Unterschied zwischen Vertigo und La Jetée. Bei Hitchcock bringt die Liebe zu Kim Novak James Stewart um den Verstand. Erst Novaks doppelter Tod, der einer Teufelsaustreibung gleicht, rettet ihn. Marker setzt dem Trauma, hier des Vernichtungskriegs, Anmut und Rührung entgegen. Erlösung findet sein Protagonist, als er der Liebe soweit verfallen ist, dass er bereit ist, dafür sein Leben zu lassen. Die Erinnerung an das Rollfeld von Orly mag eine flüchtige sein. Doch sie ist wirkmächtig. Sie lässt ihn auf seinen Zeitreisen im Nirgendwo Halt finden, als Anker, um bei zu Verstand bleiben. Die Vorstellung, dass es die bedingungslose Liebe ist, die den Protagoisten schließlich vom Trauma seiner Kindheit erlöst und eine regelrechte Himmelfahrt erleben lässt, mag eine romantische sein. Aber sie ist im Gegensatz zum Zynismus Hitchcocks besser dazu geeignet, uns Menschen des 21. Jahrhundert den Ausweg aus dem rabbit hole zu weisen. Bei Marker ist dies spektakulär in Szene gesetzt. Der eine Moment, in dem die disparaten Sinnebenen von Bild und Ton in La Jetée im bewegten Augenaufschlag der Geliebten zusammenfinden, wirkt mächtiger als jeder special effect des zeitgenössischen Kinos. In diesem Moment, der nur eine Sekunde dauert, weicht die Überforderung, die Angst, das wirre Gefühl im Kopf und es stellt sich Frieden ein.
Unter der gefrorenen Sonne von Orly fügen sich die Trugbilder und das Déjà-vu dialektisch zu einem Drittem: einer Schlaufe in der Zeit, einem geschützten Ort der Zuflucht vor dem Chaos. Nach einem solchen Ort sollten wir suchen. Denn vergessen wir nicht – was Neo in der Matrix-Trilogie wie Moses seinen Weg und aus dem rabbit hole des Virtuellen heraus finden lässt, sind nicht seine Superkräfte, sondern die schicksalhafte Liebe zu einer Frau. Dass die Liebe selbst die Verwandte des Wahnsinns ist, scheint die finale Pointe in dieser Erzählung zu sein.
Text: Ruben Donsbach
Bilder: Corey Towers
Der Artikel erschien zum ersten Mal in der Fräulein Ausgabe 04/2017.