Ein Auszug aus unserem aktuellen Heft “Märchen”.
Fantastische Transformationen
Ohne Bekenntnis zu einem Gender stellt der
Make-up-Artist HUNGRY unsere Konzeption von
Wirklichkeit und Körperlichkeit immer wieder
radikal in Frage. Ist Drag die neue Volkskunst?
Vor einem Jahr kannte ihn noch kein
Mensch. Heute hat Hungry über 347.000
FollowerInnen auf Instagram. Der Dragund
Make-up-Artist erfindet sich in fantastischen
Rollen st.ndig neu. Eine solche
magische Transformation wohnt vielen
M.rchen inne – nicht nur denen der westlichen
Kultur. Darum haben wir Hungry
zu unserem Fräulein-Star gemacht. Denn
was bedeutet Sch.nheit eigentlich in einer
Zeit, in der die Konfigurationen des
eigenen Ich immer flie.ender werden und
in denen Sexualit.t und K.rper kein statisches
Ensemble mehr sind?
FRÄULEIN: Du hast für Björk das Make-
up ihres letzten Albums Utopia entworfen
und ihre Utopie visuell umgesetzt.
Wie kam die Zusammenarbeit zustande?
HUNGRY: James Merry, der seit vielen Jahren
mit Bj.rk zusammenarbeitet und ihre
Masken wie die Silikonvagina entworfen
hat, schrieb mich im Sommer 2017 über
meinen Instagram-Account an, ob ich
nicht das Make-up für die kommende
Platte machen will. Bj.rk hatte sich einen
Look mit Blütenbl.ttern auf der Nase von
meiner Instagram-Seite ausgesucht, den
sie mochte. Ich konnte es erst gar nicht
glauben, aber war sofort dabei.
Du hattest vorher keinen Bezug zur
Popwelt?
Nein, absolut nicht. Ich muss sogar gestehen,
dass ich bei Musiktrends nie besonders
gut informiert war und immer dasselbe
wie meine Geschwister und Freunde
geh.rt habe. Ich war hin und weg, als ich
gefragt wurde.
Wie lief eure Zusammenarbeit?
Kurz nach dem Telefonat haben sie mich
für einen Probeshoot nach Los Angeles
eingeflogen. Das lief alles sehr gut und
so habe ich ihren Cover-Look geschaffen
und sie diesen Sommer auf ihrer Tour
begleitet.
Wie hast Du Björk erlebt?
Sie ist eine tolle Person: sehr freundlich,
ruhig und meditativ. Mit ihr zu arbeiten
war sehr entspannt und inspirierend, weil
sie immer offen für neue Vorschl.ge von
mir war.
Deine Looks haben Titel wie Rodeo
Clown, the Neon Demon, Infestation and
Decay oder Gerascophobia, die Angst vor
dem Älterwerden. Sie wirken wie Wesen
aus einem Märchen oder Fantasy-Film.
Was inspiriert Dich?
Das Ramakian, das thail.ndische Nationalepos,
das aus dem Hinduismus stammt
und in den thail.ndischen Buddhismus
übernommen wurde, ist ein wichtiger Einfluss.
Mein Vater stammt ja aus Thailand.
Fabel- und M.rchenwesen hatten schon
immer eine magische Wirkung auf mich.
Wenn ich als Kind mit meiner Familie zu
Besuch in Thailand war und dort Statuen
mit menschlichem K.rperbau und Tiergesichtern
in den Tempelg.rten gesehen
habe, fand ich sie sehr prunkvoll. Thailand
hat mich immer mehr als Deutschland beeindruckt,
weil meine Wurzeln dort liegen.
Die asiatische Kleidung fasziniert mich
mehr als Dirndl oder Lederhose, was ich
aus dem niederbayerischen Kurort Bad
Füssing, in dem ich aufgewachsen bin,
kannte.
Wie hast Du Deine Kindheit und Jugend
in Bayern erlebt?
Ich war früher ein Au.enseiter. In Niederbayern
war das nicht schwer. Meine Kindheit
war dennoch sehr behütet. Es war gut,
dort aufzuwachsen, weil ich mich nicht
mit verrückten Problemen herumschlagen
musste. Aber es war für mich schwer, meine
Kreativit.t in diesem sehr konservativen
und katholischen Umfeld zu entfalten. Zwei
Wochen nach meinem Abitur bin ich nach
Berlin abgehauen.
Ist Deine Familie kreativ?
Mein Vater ist Diplomingenieur. Neben
seinen technischen Zeichnungen hat er
immer sehr sch.n mit Bleistift Tiere skizziert,
aber nur als Hobby. Es stand für ihn
au.er Frage, hauptberuflich etwas Kreatives
zu machen. Meine Mutter lebt sich
kreativ im Garten und in der Handarbeit
aus. Meine Geschwister haben aber im Gegensatz
zu mir alle echte Jobs.
Neben Deiner Arbeit als Make-up-Artist
bist Du mittlerweile ein sehr gefragter
Drag-Künstler. Was macht die Magie dieser
Inszenierung für Dich aus?
Drag hat mir geholfen, eine eigene Sprache
zu finden und offener zu werden. Anfangs
war es seltsam für mich, weiblich zu
sein, doch mittlerweile empfinde ich es als
meinen wahren Charakter. Das kam automatisch:
Ich war gezwungen, eine andere
Person zu sein. Du hast im Kostüm eine
starke Pr.senz und musst dir darüber im
Klaren sein. Du kannst dich nicht komplett
verkleiden und dann wundern, dass
Menschen dich ansprechen. Man muss
sich damit auseinandersetzen, wie man
im sozialen Raum agiert. Im Alltag bin ich
übrigens nicht sehr extrovertiert.
In der Drag-Szene bist Du in der Tat sehr
exponiert. Empfindest Du Dich selbst
schön?
Ja. Drag war für mich ein Boost für mein
Selbstbewusstsein. Aber in meiner Jugend
war ich das nie, ich war immer anders. Ich
war mir damals sicher, dass ich h.sslich bin,
weil meine Haut nicht wei. war, ich dünn
war und eine schmale Taille hatte. Als ich
dann nach Berlin ging, habe ich entdeckt,
dass es Menschen gibt, die mich sch.n finden.
Das habe ich so schnell wie m.glich
aufgesogen, weil ich so lange anti-me war.
Worin liegt für Dich der Reiz deiner
Transformation?
Ich will Menschen aus der Bequemlichkeit
rei.en. Man versteht Drag manchmal
nicht ganz, aber ich wei., dass es visuell
funktioniert. Die Menschen sehen es als
sch.n an und sind gleichzeitig total verwirrt.
Es ist sehr befreiend, weil ich selbst
erschaffen kann, was ich darstellen will.
Drag ist so offen, dass es keine Regeln gibt.
Für Kreative, die sich selbst darstellen
wollen, ist es das beste Mittel. Es ist eine
Kunst des Volkes für das Volk.
Wie würdest Du Deine persönliche Verwandlung
beschreiben?
Es geht bei mir immer darum, einen neuen
Charakter zu entwickeln. Wenn ich
vollst.ndig in diese Figur eintauche, fühlt
es sich für mich mehr nach einem Zuhause
an, als wenn ich kein Make-up trage.
Ich fühle mich wohler, wenn ich wei.,
dass ich ein komplett ausgearbeitetes
und visuell interessantes Outfit anhabe,
das Sinn macht und sch.n ist. Das macht
mich glücklich. Inzwischen hat sich mein
Realit.tsbezug so ver.ndert, dass ich mein
Alltags-Ich als Interimsphase zwischen
meinen Looks sehe.
Wer hat es Dir beigebracht?
Als ich anfing, habe ich eine Bühne über
die Drag Queen Pansy im Südblock in Berlin
bekommen. Das war eine sehr offene
Performance, man konnte machen, was
man wollte. Dort habe ich mich langsam
selbst gefunden.
Du hast während Deines Modedesign-
Studiums für Vivienne Westwood
gearbeitet und wurdest dort in der Drag-
Szene populär. Wie hast du London erlebt?
In London ist die Szene offensiver als in
Deutschland. Ich war Teil von Think The
Pink, die ja eine Agency sind, es gibt Fernsehauftritte
und gro.e Performances mit
20 Leuten. Das ging mehr in die kommerzielle
Unterhaltungsrichtung.
Wie unterscheidet sich das Nachtleben in
London von Berlin?
Die Partyszene ist v.llig unterschiedlich.
Berlin ist so Techno. Die Leute nehmen
sich viel zu ernst mit ihrer Vorstellung,
dass man nur Normcore, schwarz und
Adidas tragen darf. Als ich anfangs in Berlin
ausgegangen bin, fand ich alles total
dunkel, immer sehr maskulin, sehr viele
Drogen. Wenn jemand wie ich viel Arbeit
in ein Outfit steckte, waren viele zu cool
zu sagen, dass sie es gut fanden. Das war
nichts für mich. London ist viel bunter.
Die Unterhaltungsindustrie veranstaltet
Parties, bei denen man Spa. haben darf.
Es ist erlaubt, doof und albern zu sein.
Man darf einen l.cherlichen Look tragen,
der nach Müll aussieht. Die Leute lachen
dann mit dir. Es macht mir mehr Spa.,
dort auszugehen als in Berlin.
Du hast viele deiner Instagram-Posts mit
dem Hashtag Genderfuck versehen. Was
nervt dich daran?
Ich bin die Genderfrage etwas leid, weil
Geschlecht in meiner Arbeit nie relevant
war. Ich wurde in meinem Leben so oft
gefragt, ob ich ein Junge oder M.dchen
bin. Wegen meiner Gesichtszüge sah ich
immer feminin aus. Ich will in meiner
Arbeit nicht auf normale Geschlechterrollen
zurückgreifen, Geschlecht ist für
mich nicht schwarz und wei. oder kategorisierbar.
Bei mir ist es egal, ob ein
Charakter m.nnlich oder weiblich ist.
Ich habe eine andere Vision: Ich will Gefühle
sichtbar machen, das k.nnen auch
negative Emotionen wie die Depression
sein.
Text: Annette Walter
Dieser Beitrag erschien zuerst in Fräulein-Ausgabe 1/2019