Eine Kulturgeschichte jenes Körperteils, das auch ohne Zunge sprechen kann.
Meister ihres Handwerks
Auf die Größe kommt es an. Nicht zu klein sollen sie sein. Sich fest und warm anfühlen. Der erste Händedruck lässt Rückschlüsse zu auf Charakter, Manneskraft und Beherztheit. Diese Hand nimmt sich, was sie will. Erhebt sich, wenn ihr etwas nicht passt. Besänftigt, wenn sie im Unrecht war. Legt sich ins Feuer, wenn sie vertraut. Sie ist vielseitig: vom zaghaften Zueinanderfinden über zärtliches Streicheln bis zum leidenschaftlichen Zupacken. Die Hand als Portal zum anderen Geschlecht muss nicht zwingend die vor Kraft strotzende Pranke sein. Sinnlichkeit kann so vieles bedeuten. In der Kulturgeschichte ist sie unverzichtbar, ob bei Aposteln, Pianisten, Vätern, Liebhabern oder Superhelden.
Rückblende, frühes 15. Jahrhundert: Während die Welt im Mittelalter noch aus dem christlichen Glauben heraus erklärt wurde, richtet sich der Blick nun auf die Erforschung der Natur. Künstler üben sich in der realistischen Darstellung aller Dinge, ganz nach dem Motto Schön ist, was gut und recht ist. Auch hier ist (wie so oft) die richtige Proportion gefragt. Nehmen wir Michelangelos berühmtes Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle, Die Erschaffung Adams, jenes wohl am meisten reproduzierte Bild der Renaissance. Gott erweckt Adam zum Leben. Kraftvoll und doch anmutig streckt er seinen rechten Zeigefinger aus, um den Lebensfunken auf Adam, nackt und noch ein wenig schlaftrunken, überspringen zu lassen. Gottes Hand: klein und doch muskulös. Das muss sie auch, schließlich hat sie die Welt erschaffen. An Gott geschmiegt und in seinen Mantel gehüllt, blickt die junge Eva auf Adam. Es mag blasphemisch klingen, doch irgendwie scheint es, als sehne sich Eva selbst nach der Berührung durch Gottes Hand. Nach der Hitze, die dann in ihr aufsteigen würde und der Welle, die erst langsam und dann immer schneller durch ihren Körper geht. Nach dem sich beschleunigenden Herzschlag. Nach dem Leuchten und dem Blitz, der immer wieder in ihr einschlägt. Die Hand und Berührung als eigentliche Frucht der Versuchung? Wäre es Eva übel zu nehmen? Wer würde ihn nicht spüren wollen – den göttlichen Funken, der die Welt in Wallung und Eva zum Beben bringt?
Malerei fand damals hauptsächlich in der Gestaltung der Altarbilder statt. Portraits und Alltagsszenen kamen in der Renaissance erst später hinzu. Das körperliche Idealbild: Wohlgenährtheit (um es nett auszudrücken), noble Blässe und üppige Accessoires. Auch der Mann trägt stolz Ring und präsentiert seine Hand als Zeichen gesellschaftlicher Stellung. Ein beliebtes Motiv: Der adelige Jüngling mit blasser Hand, der wohl auch das Glas mit abgespreiztem kleinen Finger zum Mund führen würde. Damals elegant und anmutig, heute eher affektiert und schwülstig. Aber Adel verpflichtet. Würde der Maler kurz wegsehen, würde der junge Knabe wahrscheinlich den Ring abnehmen, die Hand entkrampfen und zur Entspannung mit allen zehn Fingern knacken. Ein Geräusch, das die meisten schaudern lässt. Mich versetzt es eher in nostalgisch-romantische Stimmung und führt zurück zur Schulzeit, als das Spannendste am Mathe-Unterricht der frisch aus dem Studium kommende Referendar war. Als Zeichen seiner (noch) unerschütterlichen Motivation knackte er zu Beginn jeder Stunde mit den Händen. Zehn Finger, die sich ineinander fügen, drehen und voller Spannung gestreckt weiß anlaufen; das Geräusch von purem Tatendrang.
Weit ausgestreckte Hände mit gespreizten Fingern: Auch der Bildhauer Auguste Rodin, Wegbereiter der Moderne, schuf ungeheure Kraftsymbole in plastischer Starre. Hier scheint selbst die zierlichste Pianistenhand mehr aus Testosteron zu bestehen als aus Bronze. Schmale, filigrane Finger, die sich zum bevorstehenden Klavierspiel krümmen und mich irgendwie an eine der wohl traurigsten und zugleich heißesten Filmszenen erinnern: Adrien Brody setzt in Der Pianist als junger Wladyslaw Szpilman im kriegszerstörten Warschau zum letzten Klavierstück an und spielt Chopin. Seine ausgemergelten Hände legen sich behutsam auf die Tasten des alten Klaviers. Langsam beginnt er mit den ersten Bewegungen. Melancholie und Spannung. Nach und nach kommen alle Finger zum Einsatz. Die Adern treten hervor. Das Stück wird immer schneller, Töne perlen und schmettern, die Finger fliegen über die Tasten. In seinem Gesicht sieht man deutlich die Anspannung. Schneller. Atemdunst in kalter Luft. Er setzt zu den tieferen Tönen an und endet vollkommen erschöpft mit allen Fingern auf dem Klavier. Gut, es war auch Adrien Brody in der Rolle des jungen Pianisten. Aber seine Finger trugen einen nicht unerheblichen Teil zur Sinnlichkeit der Szene bei.
Warum machen uns Knochen oder Gelenke nicht an, dafür aber bläulich schimmernde Bahnen, die an kleine Äste erinnern? Ob dünn, lang, muskulös, klein – oft entscheidet doch über die Sinnlichkeit der Hand die Kraft, die in ihr steckt. Und wie könnten wir diese besser erahnen als durch Adern? Durch sie fließt das Blut und somit auch das Leben.
Kleine Wurzeln, die bei Anspannung zum Vorschein kommen und auf Unterarmen und Händen sichtbar werden. Während meine Mutter im Blumenladen Rosen bestellte, stand ich neben ihr und beobachte die von Erde beschmutzten Hände des Gärtners. Fingernägel schwarz wie die Nacht, die Haut voller Schrammen und Kratzer. Muss wohl an den Dornen der Rosen liegen, die er ständig für die Dorfmütter umtopft. Irgendwie romantisch, fand ich; eine Sinnlichkeit, die in der handwerklichen Begabung liegt und suggeriert: „Ich arbeite mit meinen Händen, baue dir ein Haus und bepflanze deinen Garten, Weib …“
Doch zurück zur Geschichte: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts überwog in der Malerei die expressive Ebene gegenüber der rein ästhetischen. So wandte sich Egon Schiele gegen den vorherrschenden Moralkodex und die sexuelle Unterdrückung und erforschte die menschliche Lust in seinen Bildern. Nacktheit und Körperlichkeit dominieren die Werke. Schiele fragmentiert und betont die für ihn essentiellen Partien. Rote Lippen, weit gespreizte Beine. Der Künstler zeichnet sich selbst und junge Frauen beim Masturbieren. Schiele ist Voyeur und Exhibitionist zugleich. Die Hände sind immer überlängt, blass und ausgezehrt, nur die Geschlechtsorgane freiliegend und farbig betont. Eine Sinnlichkeit, die weniger durch die reine Ästhetik als mehr durch die Interpretation des Bildes zum Ausdruck kommt.
Was könnte zu den ausgemergelten Händen des Expressionisten mehr in Kontrast stehen als die massiven Hände der Comic-Helden? Bereits während des Zweiten Weltkrieges gab es rund 160 verschiedene Superheldentitel. Der US-Verlag Marvel Comics präsentierte einige der berühmtesten wie Spiderman, Captain America, Thor oder Hulk. Gut, klebrige Spinnenhände mit langen Fäden mögen auf der Sinnlichkeitsskala nicht besonders weit oben liegen. Doch ich müsste lügen, würde ich behaupten, Thor alias Chris Hemsworth hätte mich in der Filmversion nicht angemacht. Wer achtet da noch auf die abstruse Nicht-Handlung, wenn der muskelbepackte Donnergott vom Himmel steigt? Der Hammer umschlungen von den kraftvollen Händen eines nordischen Gottes mit wallend blondem Haar … heiß! Oder denken wir an die beiden Kraftprotze Hulk und Popeye. Zwei Herren mit Hang zur Farbe Grün, die sich je nach Gemütszustand oder Ernährung in erschreckend muskulöse Gestalten verwandeln. Figuren mit Händen, die gefährlich anmuten und doch zärtlich sein können.
Sie ist das komplizierteste Teil aller menschlichen Gliedmaßen – 27 Knochen, 33 Muskeln, 22 Achsen, an denen sie beweglich ist und 17.000 Fühlkörperchen, die Druck, Bewegungs- oder Vibrationsreize aufnehmen. Und obwohl sie keine Zunge hat, ist sie nicht stumm: Der Mensch begreift mit den Händen, Gesten überwinden Sprachbarrieren, ergänzen oder ersetzen das gesprochene Wort. Ein Händeschütteln signalisiert Friedfertigkeit, die Faust droht dem Feind. Und ein Streicheln ist Symbol für Trost, Mitgefühl, Liebe.
Beitrag: Stephanie Baumgärtner
Fotos: Bela Borsodi
Dieser Beitrag erschien in der Fräulein Nr. 19