Leonora Carrington: Die surrealistische SPHINX

vor 6 years

Die Malerin und Autorin kämpfte ihr Leben lang verbissen für die Freiheit. Max Ernst verdrehte sie den Kopf, für Frida Kahlo war sie eine „wilde Hündin“. Über das Leben einer modernistischen Muse, die Niemandes Magd sein wollte.

Santander, Spanien, August 1940: Halbnackt, zuckend, vollgepumpt mit Cardiazol, in panischer Angst liegt die 23-jährige Leonora Carrington an Lederriemen gefesselt auf einer Pritsche. Man therapiert ihre schizoiden Züge. Eine eindeutige Diagnose gibt es nicht. Ihr eigener Vater erteilte den Befehl. Aus der Ferne. Das reichte. Schon als Kind nahm ihr Vater Harold Wilde Carrington sie als verrückt wahr. Ver. Rückt, das war sie, verrückt nie. Geboren am 6. April 1917 auf Crookhey Hall im Nordwesten Englands, wuchs sie als ein traumbegabtes Kind heran, das von den streng katholischen Eltern bereits mit acht Jahren ins Kloster Zum Heiligen Grab verbannt wurde. Das ursprüngliche, wilde, ungezügelte Kind, von Visionen, Geistern und hybriden Wesen beseelt, war nicht greifbar. Dass sie an der elterlichen Verachtung nicht zerbrach, lag an ihrer Mentalität, alles umzudrehen, um es ins Absurde zu führen. Ihr Vater, ein schwerreicher Textilmagnat, ausgestattet mit dem Komplex vieler Neureicher von nicht aristokratischer Herkunft, war jener cholerische Patriarch, den sie in vielen ihrer Erzählungen hinrichtete: „Mein Vater ist ein Halunke. Koch ihn, brat ihn, zerdrück ihn, zerhack ihn!“ Leonora rauchte mit elf, flog von zwei klösterlichen Internaten.

Sie wollte immer nur frei sein und malen.

1934, als Debütantin, mutierte die Bildschöne zur Hyäne und schreckte erfolgreich all jene Bewerber ab, die von den Eltern devot hofiert wurden. Sie wollte immer nur frei sein und malen. Es grenzt an ein Wunder, dass man ihr erlaubte, in London Malerei zu studieren. 1937 dann knallte es derartig, es funkelte und rauschte und zwei Pole, schwingend auf ein und demselben Pendel, elektrisierten sich. Auf einer Dinnerparty lernte Leonora Max Ernst kennen. Sie ist neunzehn, er sechsundvierzig. Freier Fall! Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken entschließt sie sich, ihm nach Paris zu folgen, mitten hinein in das surrealistische Manifest rund um Breton, Eluard, Buñuel und Dali. „Ich brannte durch, nach Paris. Nicht mit Max. Ich bin immer auf eigene Faust durchgebrannt.“ Ihr Vater, für den Ernsts Kunst nichts als „pornografische Schmiererei“ war, dreht durch. Vater und Tochter sehen sich nicht wieder. In Paris fiel die blutjunge, unergründliche Schönheit in ein fiebriges Labyrinth Gleichgesinnter. Das magische Diktat, die Allmacht des Traums, die Verehrung des Irrsinns, all das war nichts Neues für Leonora. Neu war, dass sie endlich erhört wurde. Auf der Surrealisten-Ausstellung in Paris 1938 war sie mit zwei Gemälden vertreten.

Ihre Erzählung Die Debütantin und wenig später Das Haus der Angst erschienen. Max Ernsts Noch-Ehefrau wurde zur Furie und beschimpfte sie wüst? Egal. Leonora bestrich sich lieber die Füße mit Senf oder ließ auf einem Cocktailempfang ihr schneeweißes Leintuch fallen, in voller Pracht, splitterfasernackt, die Gesellschaft verlassend. Dass man sie anbetete, war das Spiel, nie das Ziel. Das Paradies? Jetzt. 1938 kaufen sich Max Ernst und Leonora Carrington gemeinsam ein altes, von Weinbergen umgebenes Bauernhaus, 50 Kilometer nördlich von Avignon. Sollte der Surrealistenklüngel in Paris doch zur Farce werden, nicht mit ihnen. Hier in St. Martin de L’Ardèche erschaffen die beiden ein surrealistisches Gesamtkunstwerk. Hier herrschten Loplop, das geflügelte Fabeltier mit einem Seestern als Geschlecht, und seine Windsbraut. Hier entstehen Skulpturen, Reliefs, Wortverdichtungen, alchemistische Abendmahle mit selbst gekelterten Weinen, und Fabelwesen, die aus der Wiese ragen. Aus dem Halbdunkel ihres Unterbewusstseins geben Ernst und Carrington der Unendlichkeit einen Schein.

Diese phantasmagorischen Gefilde bieten freilich keinen Raum für die Realität, für den faschistischen Terror. Es ist dieser, der sie aus dem Paradies vertreibt. 1940 wird Max Ernst als deutscher Saboteur diffamiert und interniert. Leonora zerbricht. Der Wahn, dem sie sich auf künstlerischer Ebene hingegeben hatte, wird pathologisch. Freunde aus England finden ein apathisches Geschöpf, im Kartoffelacker schuftend, Orangenblütenwasser trinkend, und nehmen es mit nach Spanien. „Die Deutschen sind nichts als eiskalte, seelen- und körperlose Roboter“, schrie sie auf dem von Leichen gepflasterten Weg. Sie verlor immer mehr die Bodenhaftung. In Madrid wurde sie zur „öffentlichen Gefahr“, halbnackt auf Dächern stehend, durch die Straßen irrend und beschwörend, dass sie – wenn man sie nur ließe – Hitler und Franco besiegen könne. Aus Ohnmacht wurde Allmacht. Da packte der Krakenarm des Vaters zu. Über seinen weltweit agierenden Konzern sandte er Gehilfen und Psychiater, die Leonora für unheilbar geisteskrank erklärten. Der eigene Vater ließ sie in die Folterkammer werfen, in die private Nervenheilanstalt von Santander. Vier Monate lang versuchte man, ihren Widerstand zu brechen, injizierte ihr Cardiazol, band sie tagelang ans Bett. Doch sie zog sich nicht zurück, wie etwa der Fürst von Monaco, der hier schon jahrelang vor sich hinvegetierte. Sie wählte – wie immer – die Rebellion: „Ich warne Sie! Ich weigere mich, ein Gegenstand zu sein“, brüllt sie. Leonoras seelischer Zusammenbruch wird zum Durchbruch. Mit Hilfe ihres Cousins gelingt ihr die Entlassung. Ihre Eltern schicken erneut Spione, wieder wird aus der Ferne ein perfides Netz gesponnen. Doch sie kann entkommen und fällt in Lissabon Max Ernst in die Arme. Happy End? Keineswegs. Ernst lässt sich jetzt von Peggy Guggenheim aushalten und Leonora ist geheilt. Keine Muse mehr, keine Windsbraut und auch nicht mehr Prim, wie man sie als Kind nannte. Sie hat all das hinter sich gelassen, um endlich zu sein, wer sie ursprünglich war – Leonora. Und die will, wie Millionen anderer, nur noch weg. Weg von Europa, weg von Hitler. „Hier lebt die Sphinx, sie ist schön, intelligent und frei“, schrieb ihr Freund und Förderer, der britische Exzentriker Edward James, über Leonoras Haus in Mexico City. In die pralle Schönheit Mexikos tauchte Leonora erst ein, nachdem sie ihren ersten Ehemann Renato Ledurc, einen Freund Picassos, verlassen hatte und mit Remedios Varo, einer surrealistischen Malerin, und der Fotografin Katie Horna ein aufsehenerregendes Trio bildete. Frida Kahlo bezeichnete die drei als „die europäischen Hündinnen“. Keltische Mythen, Astrologie, Alchemie, Schamanentum, das tibetanische Totenbuch – all das verschmilzt in Leonoras Atelier zu einem kosmischen Ganzen, Urbildern, dem kollektiven Unterbewusstsein entsprungen. „Ihre Bilder sind nicht gemalt, sie sind gebraut“, so Edward James, mit dem sie viel mehr verband als nur die Herkunft aus der britischen Upper Class. James und Carrington waren Seelenverwandte, wandelten in Morgenröcken mit Papageien auf den Schultern durch den Dschungel, auf der Suche nach dem Paradies. Sie fanden es Las Pozas.

Keltische Mythen, Astrologie, Alchemie, Schmanentum, das tibetanische Totenbuch – all das verschmolz in Leonores Atelier zu einem kosmischen Ganzen.

James ließ André Breton kommen und schuf einen Garten Eden, ein surreales Fest, mit Treppen, die im Himmel endeten, und mit Türen, die ins Nichts führten. Leonora war nie vermögend, ihre kostbarsten Rohstoffe waren ihre Phantasie und ihr schwarzer Humor. Sie war bescheiden. Und politisch. Kämpfte für die Rechte der Frauen. Für diejenigen von uns, die immer noch der roten Rose des Bachelors hinterherhecheln, hinterließ sie eine eindeutige Botschaft: „Most of us, I hope, are now aware that a woman should not have to demand Rights. The Rights were there from the beginning; they must be taken back again, including the mysteries which were ours and which were violated, stolen or destroyed.“ 2011 stirbt sie mit 94 Jahren. „Ich bin so traurig, so traurig, dass mein Körper transparent geworden ist, ich habe so viele Tränen vergossen. Ist es möglich, sich in Wasser aufzulösen, ohne eine Spur zu hinterlassen“, fragt sie in ihrer Erzählung Das siebente Pferd. Leonora Carrington, das ist sicher, hat eine Spur hinterlassen, eine starke und – ohne jeden Zweifel – allegorisch wundervolle.

Beitrag: Verena Kleinselbeck

Dieser Beitrag erschien in Fräulein-Ausgabe Nr. 23

 

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