Horror, Horror, Horror

vor 7 years

Adelige Richkids auf Drogen, ein Jahr ohne Sommer und ein See in Totenstarre – 1816 wird in einer Villa nahe Genf Literaturgeschichte geschrieben. Aus purer Langeweile.

Was als Zeitvertreib einiger gelangweilter Richkids begann, wurde zu einer der legendärsten Nächte der Literaturgeschichte. Monster wurden geboren, die noch den Schlaf von Generationen bevölkern sollten. Gestalten, die zwischen Leben und Tod wandeln, als sei diese Grenze nur eine feine Membran, durch die man jederzeit problemlos tranzendieren kann. Queere Liebhaber entstanden, die das Blut ihrer Anbeterinnen tranken wie andere Wein. Riesen, die wie einst die Götter durch einen Blitz aus reiner Masse zu lebender Materie transformiert wurden. Ein Nachhall des Urknalls, ein Bewusstsein an der Schwelle zur Moderne, das sich von den Fesseln der Schöpfung emanzipieren wollte – mit aller Macht.

Im Jahr 1815 hatte der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora weltweit den Himmel verdunkelt. Das Jahr 1816 ging als Jahr ohne Sommer in die Geschichte ein. Der Himmel war blass, es regnete ständig, kaum drang die Sonne durch die Wolken, die ständige Nässe zu vertreiben, die sich in allen Pflanzen, Tieren, Gemäuern, ja in den Menschen selbst, eingenistet hatte. Die Bühne war bereitet für ein schauriges Zusammenkommen.

Der schon seinen Zeitgenossen als genialer Dichter bekannte Lord Byron hatte es sich nach mehreren gesellschaftlichen Eklats mit Kirche und Establishment grundlegend verdorben, seine Frau verlassen und war aus England auf das europäische Festland geflohen. Byron, einer der großen Protagonisten der englischen Romantik, war ein Rebell und ein schrecklicher Herzensbrecher. Er stürzte mehr als eine junge Frau ins Unglück. Byron war wie ein Vampir. Der perfekte Gastgeber also für eine Runde, die Horrorgeschichte schreiben sollte.

1816 mietete Byron die Villa Diodati am Genfer See, da er irrtümlich glaubte, dass der legendäre englische Poet John Milton hier knapp 200 Jahre zuvor die Familie seines verstorbenen Jugendfreundes Charles Diodati besucht hatte. Die Villa lag an einem Hang weit unterhalb des Mont-Blanc-Massivs, mit Blick auf den Genfer See. Ein dramatischer, ein übersinnlicher Ort. An manchen Tagen verschmelzen der Nebel und das Wasser zu einer schwerelos silbrigen Fläche, gleich dem Fluss, über die in der griechischen Mythologie Charon die Toten übersetzt. In diesem Nebel ist es still und gespenstisch. Im Jahr ohne Sommer verband sich diese Stimmung mit etwas ganz und gar Morbidem.

Byron wurde begleitet von seinem Leibarzt John Polidori. Bald stießen drei weitere Kinder des Saturn dazu: Byrons Ex-Geliebte Claire Clairmont, noch immer vernarrt in den Lord und mutmaßlich von diesem schwanger. Dazu der neben Byron wohl größte englische Romantiker, der Sozialrevolutionär Percy Shelley, und dessen spätere Frau Mary Godwin, die Halbschwester von Claire. Eine vom Genius geküsste Gesellschaft, dazu inzestiös und intrigant.

Doch erst einmal herrschte Langeweile. Man vertrieb sich die Zeit mit dem Vorlesen von Gruselgeschichten, darunter die Ballade Lenore von Gottfried August Bürger, in der es um einen Totentanz und die romantische Figur des Wiedergängers geht, den Kafka später in seinem Erzählfragment des Jäger Gracchus fortschreibt. Gracchus lässt sich von einer dem Charon ähnlichen Figur über den Gardasee setzen. Bei Kafka heißt es: Ich bin hier, mehr weiß ich nicht, mehr kann ich nicht tun. Mein Kahn ist ohne Steuer, er fährt mit dem Wind, der in den untersten Regionen des Todes bläst. Die illustre Runde ist abgespaced, benebelt von exzessivem Laudanumkonsum, einer starken Opiumtinktur. Bald ging es um okkulte Phänomene, bald um die Ideen des englischen Dichters, Naturforschers, Er nders und Großvaters von Charles Darwin, Erasmus Darwin und dessen Versuche, tote Materie zum Leben zu erwecken. Irgendwann kam Byron auf die Idee, man könne doch selbst Gruselgeschichten schreiben. Die (Literatur-)Geschichte nahm ihren Lauf.

Inspiriert von einer noch rudimentären Erzählung Byrons verfasste Polidori die Erzählung Der Vampyr, die erste Vampirgeschichte der Weltliteratur. Die Hauptfigur des Lord Ruthven war der Vorläufer des Dracula, den Bram Stoker erst 80 Jahre später erfinden sollte. Die Geschichte des Genrebegründers Polidori ist stark autobiographisch gefärbt, ein Fall für den Psychoanalytiker. Der junge Engländer Aubrey begegnet in London dem scheinbar perfekten Gentleman Lord Ruthven und begleitet ihn auf den Kontinent nach Rom. Nach einigen Irrungen verfällt Aubrey dem Wahnsinn und verliert auch noch seine Schwester an den Vampir. Die Geschichte endet im Desaster, Wirklichkeit und Wahn überblenden. Die Erzählung reflektiert das Untergebenenverhältnis von Polidori zu dem sadistisch veranlagten Byron. Polidori wie Aubrey sterben jung. Byron wie Ruthven gehen für ihr Amüsement im wahrsten Sinne über Leichen.

Die zweite große Geschichte, die in den verzauberten Nächten in der Villa Diodati entsteht, ist vielleicht noch berühmter. Mary Godwin schreibt über einen aus toter Materie zum Leben erweckten Körper. Frankenstein oder Der moderne Prometheus wird im Jahr 1818 zunächst anonym veröffentlicht. Später wird der Roman sie zu Weltruhm bringen – unter ihrem angeheirateten Namen Mary Shelley. Frankenstein ist die Geschichte des modernen Menschen, der in der Abwesenheit Gottes zu Bewusstsein kommt und sich sei- ner eigenen Schöpfung gewahr wird.

Shelleys Frankenstein spielt zu Beginn der industriellen Revolution, die in Manchester die völlig neue Schicht des Industrieproletariats geschaffen hatte. Menschen, die sich unter desolaten Bedingungen zu Tode schuften – ohne Krankenversicherung, Arbeits- oder Kündigungsschutz. Sie sind der Abfall jenes Fortschritts, der in den Salons der Londoner Intelligenz als Gipfel der menschlichen Zivilisation gefeiert wird. Nach einer blutig niedergeschlagenen Revolte in Manchester schreibt Marys Mann Percy Shelley das später berühmte Gedicht The Masque of Anarchy. Darin heißt es:

Rise, like lions after slumber
In unvanquishable number!
Shake your chains to earth like dew Which in sleep had fallen on you:
Ye are many they are few!

Löwen! Schlummert immer noch? Unbesiegbar seid ihr doch.
Brecht ihr eure Ketten nicht,

dann verf
ällt die Chance schlicht – Ihr – ihr zählt – sie zählen nicht.

Mary Shelleys Roman handelt von einem jungen Schweizer Arzt, Viktor Frankenstein, der an der Universität Ingolstadt einen künstlichen Menschen erschafft. Shelley lässt ihren Protagonisten die Geschichte in einer Mischung aus Briefroman und Ich-Perspektive erzählen, dem Führer einer Forschungsexpedition, der ihn, der in der Arktis gestrandet ist, rettet – und warnt eindringlich vor der menschlichen Vernunft, vor dem vernunftbegabten Menschen, der sich in seiner Hybris zum Herr über die Schöpfung erhebt. Nach seiner Flucht aus dem Labor trifft das mittlerweile zur Sprache fähige Wesen in den Alpen auf seinen Schöpfer. Ohne Familie, Herkunft, aus der Geschichte gefallen, namenlos und physisch entstellt, befindet sich der moderne Prometheus trotz seiner überragenden Fähigkeiten in einer Existenzkrise. Heute würde man wohl sagen, das Geschöpf Frankensteins leidet an einer Borderline- Schizophrenie, verwahrlost und isoliert von einem sozialen Umfeld, das ihn verstoßen hat. 1976 beschreibt Martin Tropp in seinem Buch Mary Shelley’s Monster: The Story of Frankenstein das Ungetüm als eine Spaltungsfantasie von Shelley – und damit als Archetypus des modernen Menschen und dessen fragmentierter Identität.

Ob den Damen und Herren in der Villa am Genfer See klar gewesen, welche literarische Großtat sie in diesen berauschten Nächten schufen? Wohl kaum. Zu unvermittelt entstand die spätere Weltliteratur, in einem Zustand der Schwerelosigkeit, der Todessehnsucht vielleicht, an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter, das wie kein anderes Wunder auf Wunder und Trümmer auf Trümmer türmen würde – die Moderne.

Nach wenigen Tagen löste sich die Runde auf. Polidori kehrte zurück nach England, wo er sich bald darauf aus Verzweiflung das Leben nahm. Seine Vampirgeschichte war versehentlich unter Byrons Namen veröffentlicht worden. Goethe nannte es später irrtümlicherweise dessen bedeutenstes Werk, was den Byron mehr als alles andere wurmte. Die Shellyes wurden zum Power couple der englischen Romantik. Am 13. Januar 1817 brachte Claire Clairmont in Bath eine Tochter zu Welt und reiste kurz darauf nach Venedig, wo sich Byron eine reiche Geliebte genommen hatte, eine verheiratete Gräfin. Byron zeigte sich bereit, für seine illegitime Tochter finanziell aufzukommen, schickte sie aber in ein Kapuzinerkloster in Bagnacavallo, in dem sie 1822 im Alter von nur fünf Jahren nach einer Typhus- oder Malariaerkrankung starb. Was Clairmont Byron nie vergab. Byron selbst zog weiter in den griechischen Krieg gegen die Türken, übernahm das Kommando der freien griechischen Streitkräfte – und starb 1924 als Nationalheld.

 

Text: Ruben Donsbach
Fotos: Corey Towers

Dieser Artikel erschien erstmals in der Fräulein Ausgabe 01/18.

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