Immer mehr Frauen heiraten sich selbst. Ist das ein echter Trend oder nur die jüngste Manifestation eines ins Endlose gesteigerten Individualismus?
Heirate dich selbst
Und ist das überhaupt ein Unterschied? Unsere Autorin imaginiert, wie die Story in einem der berühmtesten Romane der Weltliteratur verlaufen wäre, wenn die Protagonistin einfach sich selbst verfallen wäre.
Aus Geldnot schicken die Eltern Bovary ihre Tochte Emma erst spät zur Schule. Dort wird sie wegen ihres ländlichen Benehmens als Tollpatsch belächelt. Dennoch hält sie durch und studiert anschließend Medizin. Nach leidlich bestandenem Examen heiratet sie einen wohlhabenden Witwer und lässt sich im Provinzort Tostes in der Normandie als Landärztin nieder.
Eines Nachts wird sie in den Nachbarort gerufen, um das gebrochene Bein des Landpächters Rouault zu versorgen.
Dabei lernt sie ihr apartes Selbst kennen, zu dem sie sich hingezogen fühlt. Als ihr dominanter Ehemann überraschend stirbt, mischt sich Erleichterung in ihre Trauer. Da sie mittlerweile einen guten Ruf als Ärztin hat, wagt sie es, um ihre eigene Hand anzuhalten. Die Hochzeit wird mit großem Aufwand gefeiert.
Emma ist geradezu vernarrt in sich. Gleichzeitig ist sie, die viele Liebesromane gelesen hat, schon bald von der Ehe mit sich selbst gelangweilt. Ein Ball auf einem benachbarten Schloss bringt ihr die ersehnte Abwechslung. Nach dem glanzvollen Abend erscheint ihr der Alltag in Tostes jedoch umso trister. Als sie immer unruhiger und launischer wird, glaubt Emma an ein Nervenleiden und hält einen Umzug für sinnvoll. Der neue Wohn- sitz Yonville-L’Abbaye ist etwas größer als Tostes und verspricht mehr Zerstreuung. Dort lernt Emma die schöne Emma von Neuem kennen. Emma ist hingerissen von sich selbst, und scheint ihre Gefühle zu erwidern.
Obwohl sie leidenschaftlich verliebt ist und sich gleichzeitig hasst, spielt sie nach außen die tugendhafte Mustergattin. Emma glaubt an ihr eigenes Theater und geht enttäuscht zum Jurastudium nach Paris. Nach der Abreise ihrer selbst lebt Emma zunächst in dumpfer Resignation, später in hysterischer Überspanntheit. An einem Markttag wird die forsche Emma Bovary erneut auf sich selbst aufmerksam. Einige Wochen später kommt sie sich bei der Jahresversammlung der Landwirte näher und nimmt sich mit ihrem Spott über die Provinz für sich ein. Emma beginnt eine Liaison mit der gutaussehenden Schürzenjägerin, die sie selbst nun einmal ist. Sie stillt ihre romantische Sehnsucht; ihre Kälte und Abgebrühtheit aber verkennt sie.
Als sie den jungen Hippolyt mit einer neuen Operationsmethode von seinem Klumpfuß befreien will, träumt Emma davon, dass sie Karriere macht. Doch die Operation misslingt und Hippolyts Bein muss amputiert werden. Emma verachtet sich nun noch mehr.
GLÜCKLICH LEBT SIE FORTAN MIT SICH IN ROUEN, BIS DER TOD SIE SCHEIDET
Sie will mit sich selbst und ihrer Tochter nach Italien ziehen. Am vereinbartenFluchttag schickt sie sich einen Abschiedsbrief. Sie bricht zusammen und fällt in eine Art Delirium. Emma pflegt sich wochenlang; sie leiht sich Geld vom Tuchhändler Lheureux. Auf dem Krankenbett hat Emma religiöse Visionen und verfällt nach ihrer Genesung in die Rolle einer Büßerin. Um sich abzulenken, lädt sie sich nach Rouen ins Theater ein, wo sie zufällig wieder sich selbst begegnet.
Emma ist weltgewandter geworden und will sich endlich erobern. Nach ihrer Abreise aus Rouen gelingt ihr das in einer gemieteten Kutsche. Als ihr Vater und Schwiegervater stirbt, reist Emma unter dem Vorwand, die Erbschaft zu regeln, erneut einige Tage zu sich selbst. In der Folgezeit schützt sie Klavierstunden vor, um sich ungestört zu treffen. Eines Tages sieht Lheureux sie zusammen mit sich selbst. Kurz darauf erscheint er in Emmas Haus und will sie erpressen.
„Das geht nur mich und mich selbst etwas an“, sagt sie. Doch als die regelmäßigen Treffen mit sich selbst schaler werden, will Emma die Leere mit teuren Geschenken überspielen. Das gelingt nicht, die Entfremdung wächst. Emma zieht sich deprimiert zurück und vereinsamt. Eines Tages findet sie in ihrem Schreibtisch ihre Briefe und ihr Bild. Sie erkennt, was sie an sich hatte, und versöhnt sich mit sich selbst. Glücklich lebt sie fortan mit sich in Rouen, bis der Tod sie scheidet, im hohen Alter von 98 Jahren.
Madame Bovary von Gustave Flaubert erschien 1856 zum ersten Mal als Abdruck in einer Zeitung und sorgte sofort für einen Eklat. Dem Roman, der den Untertitel Ein Sittenbild aus der Provinz trägt, wurde vorgeworfen, eben gegen diese guten Sit- ten zu verstoßen zu haben, in dem er den Ehebruch verherrliche.
Text: Andrea Hanna Hünniger
Fotos: Natascha Goldenberg
Styling: Sina Braetz
Alle Kleider: Kaviar Gauche, Bridal Couture Collection La Vie En Rose Frühjahr/Sommer 2018