Die 66. Berlinale ist in vollem Gange und überzeugt mit radikaler Filmkunst.
Es läuft die nun 66. Berlinale und wahrscheinlich zum ersten mal in ihrer Geschichte schien die Sonne. Dazu überzeugt der Wettbewerb gleich zu Beginn mit zumindest einem Film, der zum Heulen gut ist. Ein kleines Wunder! Bisher galt ja folgendes, einst von Oskar Roehler aufgestelltes Gesetz: Berlinale heißt schlechte Laune und am Ende gewinnt ein Iraner. Stimmt alles nicht mehr. Jedenfalls nur noch bedingt. Ein erster Rückblick auf drei Wettbewerbsfilme:
Schon am Freitag lief Jeff Nichols neuer Film Midnight Special, ein dunkles, phantastisches Roadmovie, immer geradewegs der Schöpfung entgegen. Denn darunter macht es Nichols nicht, der mit seinen Filmen Take Shelter und Mud in den letzten Jahren zu einem Liebling des amerikanischen Independent-Films geworden ist. In Midnight Special flieht ein Vater, gespielt von Michael Shannon, mit seinem kleinen Jungen und einem Security vor den Häschern einer obskuren Sekte und der US amerikanischen Regierung. Unterdessen lässt der Junge Wunder geschehen, einen Satelliten vom Himmel stürzen und das Universum in seinen Grundfesten erzittern. Bis zur Hälfte ist Midnight Special ein melancholischer, gut erzählter, teils bewegender Film über Leben und Tod, Familie, Glaube und der uns inne liegenden Sehnsucht nach Sinn. Doch Nichols entgleitet diese große Erzählung. ein Paradies auf Erden erinnert am Ende nurmehr an die Utopie aus einem Wachtturm-Prospekt der Zeugen Jehovas. 2 1/2 Sterne
2013 gewann der Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi mit seiner Dokumentation Das andere Rom über die Außenseiter der italienischen Hauptstadt den Goldenen Löwen in Venedig. Dieses Jahr könnte ein Goldener Bär sein Preis-Bestiarium erweitern. Rosi erzählt in seinem Dokumentarfilm Fire at Sea vom 12-jährigen Samuele und den Bewohnern einer kleinen Insel im Mittelmeer. Die Insel heißt Lampedusa. Tausende Flüchtlinge aus Afrika sind hier in den letzten Jahren angekommen, viele sind vor Lampedusas Klippen ertrunken. Fire at Sea ist eine Metapher des Krieges. In einer so nebenbei wie dringlich beobachteten Szene erzählt seine Großmutter Samuele vom Großvater, der als Fischer Nachts nie auf See gefahren sei, aus Angst vor feindlichen Kriegsschiffen. Damals habe sich das Meer rot vor Blut gefärbt. Auch heute kreuzen Marine-Schiffe das Meer vor Lampedusa, sie gehören zur technisch hochaufgerüsteten Grenzpatrouille der Europäischen Union. Selbst auf Lampedusa berühren sich die Lebenswirklichkeiten von Europäern und Flüchtlingen kaum. Auf dieser gottverlassenen Insel im Meer, einem Transitraum von Erster und Dritter Welt, ist Gianfranco Rosi eine erschütternde Parabel auf unsere Zeit gelungen ohne die Würde der Opfer zu verletzten. Die Klagegesänge Letzterer bleiben noch lange im Gedächtnis, wenn man das Kino längst verlassen hat. 4 1/2 Sterne
Mia Hansen-Løve ist so etwas wie das Fräulein-Wunder des französischen Kinos, dementsprechend hoch waren die Erwartungen an ihren Wettbewerbsbeitrag L’Avenir mit der großartigen Isabelle Huppert. Huppert spielt eine alternde Philosophieprofessorin, der erst der Mann untreu wird, dann die Mutter stirbt und ein wichtiger, langjähriger Autorenvertrag als Schulbuchautorin gekündigt wird. L’Avenir erzählt elegant und mit tollem Cast ein, so nannte es ein Kollege, Coming of Age for Old Age. Mia Hansen-Løve macht alles richtig, vielleicht liegt hier das Problem. L’Avenir könnte 30 Jahre alt sein, man würde es kaum merken. Das Bourgeoise, längst alle Sinne und Gesten verfeinerte Akademiker-Millieu, wie man es wohl nur noch in Paris finden kann. Lebenskrisen, die über Adorno ausgetragen werden. Ein Soundtrack von Schubert und Brahms, der nicht nur die Protagonistin zu nerven beginnt. Ganz zu Beginn des Films steht Isabelle Huppert mit ihrer Familie am Grab des großen französischen Autors Chateaubriand nahe St. Malo in der Bretagne. Chateaubriand wurde berühmt durch seine zu großen Teilen erfundene Autobiographie. In Zeiten, in denen die französische Gesellschaft von extremen Gesellschaftspositionen, wie jenen des Front National, droht zerrissen zu werden, hätte man sich von einem französischen Wettbewerbsbeitrag beim politischen A-Festival im Bereich der Filmkunst etwas weniger Poesie und deutlich mehr Welt gewünscht.
3 1/2 Sterne
Von Ruben Donsbach
Bild 1: L’ avenir | Things to Come, Regie: Mia Hansen-Løve
Bild 2: L’ avenir | Things to Come, Regie: Mia Hansen-Løve
Bild 3: Gianfranco Rosi
Bild 4: Fuocoammare | Fire at Sea, Regie: Gianfranco Rosi
Bild 5: Midnight Special, Regie: Jeff Nichols
Bild 6: Midnight Special, Regie: Jeff Nichols
Bild 7: Midnight Special, Regie: Jeff Nichols
Bild 8: L’ avenir | Things to Come, Regie: Mia Hansen-Løve