Früher galt seine Zunge als Delikatesse, Ende der 1950er Jahre wurde er zur Popikone. Über den einzigen Vogel, der lächeln kann.
Er ist ein merkwürdiger Vogel. Wie er so dasteht auf einem Bein (keiner weiß ob es rechts- oder linksfüßige Flamingos gibt), seinen Kopf ins Wasser gesenkt, um Plankton und Algen zu seihen. Dabei verdreht er den Schnabel, fischt also kopfüber, und seit zweitausend Jahren fragen sich Naturforscher, ob Flamingos die obere, schmale Schnabelhälfte bewegen oder die größere, löffelartige untere? Bei fast allen Tieren ist der untere Kiefer beweglich, die obere fest am Kopf.
Flamingos krächzen, ihre Stimme ist eine Mischung aus Katze und Frosch, die Zunge wesentlich größer als bei anderen Vögeln. Der antike Dichter Martial verfasste folgendes Epigramm: Die roten Flügel gaben mir meinen Namen, Feinschmecker lieben meine Zunge, doch was wäre, könnte sie singen? Dazu muss man wissen: Der römische Kaiser Vitellius ließ Tausende Flamingos schlachten, um Zungen zu essen. Deshalb sind die Vögel heute recht selten in Europa.
Doch als Muster sind sie allgegenwärtig. Auf Socken, Handyhüllen und den Hemden der Designerin Mary Katrantzou. Die Innenarchitekten Graham und Green stecken den sympathischen Vogel in Glühbirnen. Es gibt ihn auf Toilettenpapier, als Regenschirm, auf Tellern, als Stiletto. Im Roman Alice im Wunderland dienen Flamingos als Croquette-Schläger. Dank seines beweglichen Halses und den staksigen Beinen lässt er sich überall unterbringen. Seine Farbe ist an ihm so natürlich, während sie beim Menschen so künstlich wirkt: Barbie, Ariel Pink, Gwen Stefani im Jahr 2000, Nicki Minaj. Die rosa Vögel gelten als tropisch, man denkt an Palmen, Früchte, Afrika. Dabei leben sie in unwirtlichen Gegenden, in afrikanischen Natronseen, südamerikanischem Brackwasser und in Dänemark. Ja, in Dänemark. Und in den Niederlanden und Deutschland. Aus dem Zoo entflohene Flamingos haben zum Beispiel am Rande Nordrhein-Westfalens, im Zwillbrocker Venn, eine kleine, doch stabile Kolonie gebildet, 40 Rosaflamingos, Kuba- und Chileflamingos gehören seit den 70er-Jahren zur einheimischen Vogelwelt – einheimisch heißt, sie pflanzen sich in freier Natur fort (weshalb Pferde, Kühe, Hühner eigentlich nicht heimisch sind).
Dennoch gelten Flamingos als exotisch und ein bisschen bizarr. Ein Flamingo Motel mit Neonlicht-Anzeige an der Route 66 ist eins der Signale für jenes andere Leben, das aus dem Kino, kitschig und ein bisschen altmodisch. In Las Vegas gibt es das berühmte Flamingo Hotel und Casino, in den 40er-Jahren von der Mafia gegründet. Zur Eröffnung erschienen die Hollywoodstars Judy Garland, Lana Turner und Clark Gable. Der Finanzmanager der Mafia, Meyer Lanski (ein kriminelles Genie, das nie im Gefängnis war und eines natürlichen Todes starb), war der Überzeugung, dass Bugsy Siegel, der Gründer des Flamingo, über zwei Millionen Dollar aus den Einnahmen für sich abzweigte. Kurz darauf war Bugsy Siegel tot. Durchs Fenster erschossen. Der Mord wurde nie aufgeklärt. Seitdem ging es mit dem Hotel bergab. Selbst ein armer, durchgeknallter Schriftsteller/Reporter konnte sich 1970 das Hotel leisten und schrieb im Flamingo große Teile des modernen Reportageklassikers Fear and Loathing in Las Vegas. Mit viel Singapur Sling, Mescal und LSD im Blut. Der Name des Autors: Hunter S. Thompson, Erfinder des Gonzo-Journalismus, ein irrer Typ. Leider auch schon tot. Heute ist das Flamingo ein normales Hotel am Strip und muss sich mittelprächtige Tripadvisor-Rezensionen gefallen lassen. Der Vogel ist längst weitergezogen.
Ein junger Designer mit dem schönen Namen Don Featherstone erhielt 1957 den Auftrag, sich eine Dekoration auszudenken. Der Wirtschaft ging es gut, die Arbeiter hatten Geld, sich Häuser zu kaufen, zumindest einen Ratenvertrag abzuschließen. Wenn man die Einheitshäuser mit etwas schmücken wollte, gab es im Sears Katalog für 2,76 Dollar zwei Plastikflamingos, entworfen von Don Featherstone, produziert im modernen Spritzguss-Verfahren. Der Flamingo wurde schnell zu einer Ikone des amerikanischen Vorgartens, zum Sinnbild schlechten Geschmacks und Kitsch. Dann wurde er Camp, zu einem affirmativen Es-is-so-schlecht-es-ist-schon-wieder-gut des schwulen Stilprotestes. John Waters, ein dünner, hektischer Filmhochschüler, wollte der schmutzigste und perverseste Regisseur aller Zeiten werden. Er drehte 1972 einen Film um den dicken Transvestiten Divine. Es gibt da eine Szene, ungeschnitten, bei der Divine Pudelkacke isst. Im Gegensatz zu der berühmten Rasierklinge-schneidet-Auge-Szene von im Andalusischen Hund, (Buñuel und Dali) war die Pudel-Szene nicht getrickst. John Waters wurde der perverseste Regisseur aller Zeiten. „Wenn die Leute kotzen, sind das für mich standing ovations.“ Er nannte seinen Film Pink Flamingos. „Der Titel sollte möglichst weit weg vom Inhalt sein. Viele dachten, er handelt von Florida.“
Don Featherstone starb im Juni letzten Jahres, geehrt mit dem Ig-Nobelpreis für seine Flamingos. Seit Jahrzehnten trugen er und seine Frau Nancy stets die gleichen bunten Muster. Auch gerne Flamingos. In Pink, der Modefarbe des Jahres 1958. Featherstone hat den Film Pink Flamingos nie gesehen. Er stand auf der anderen Seite. In den Achtzigern und Neunzigern wurde der Flamingo plasticus ein ironisches Geschenk für Housewarming-Parties; schwule Schwimmwettbewerbe wurden in Flamingokostümen ausgetragen und für Geburtstage konnte man sich 40 oder 50 Plastikflamingos als Rasendeko von der Firma Flamingo Surprise mieten. „Ich habe noch nie eine Ente auf einem Hochzeitskuchen gesehen“, meinte Featherstone stolz, inzwischen Präsident der Firma, für die er den Pink Flamingo erfunden hatte. Sein Produkt kam mit seiner Unterschrift auf den Markt, um es von Imitaten abzugrenzen. Ja, es gab illegale Produktfälscher von rosa Plastikflamingos. Irgendwann war die Luft raus. Niemand wollte mehr pink Flamingos. Nicht mehr lustig. Zwei Monate vor seinem fünfzigsten Geburtstag wurde die Produktion eingestellt. Phoenicopteridae, im lateinischen Namen des Flamingo steckt der Phönix, für den er einst gehalten wurde, ist weitergezogen.
Doch zurück zum echten Vogel. Jener stolze Tänzer, dessen Ballet an den Ufern des kenianischen Nakurusees eines der schönsten Schauspiele der Natur ist, wenn die Männchen mit ihrer Grazie die Weibchen zu beeindrucken suchen und ihr Gefieder putzen, auf dass es schön rot glänzt.
Flamingos haben feine Lamellen im Schnabel, mit denen sie Blaualgen aus dem Wasser filtrieren. In Blaualgen geschieht die Photosynthese, Sonnenlicht wird Energie. In sogenannten Chloroplasten wird die Energie in Carotinoide gespeichert. Sie absorbieren das blaue Licht und reflektieren das rote. Karotide nutzen auch Menschen für die Sehkraft und als Antioxidanzien. Unser Körper produziert keine Karotide, also müssen wir sie essen. Wenn man sehr, sehr viele Karotten isst, können weiße Menschen orange werden. Bei den Flamingos ist die rosa Farbe ein Zeichen, dass sie viele Blaualgen gegessen und soviel Carotinoide angesammelt haben, dass die bis in die Federn steigen. Zur Paarungszeit produzieren Flamingos ein karotinhaltiges Öl, die Männchen färben sich damit die Federn und geben so vor, wohlgenährt zu sein. Die Wissenschaftlerin Penelope Jenkin fand 1957 heraus, dass der Flamingo wirklich den oberen, dünneren Schnabel bewegt, wenn er unter Wasser nach Nahrung sucht. Den Hals verdreht, die Augen unten, die Schnabellinie nach oben gebogen: Der Flamingo ist dann der einzige Vogel, der lächelt.
Von Lorenz Schröter
Illustration: Simone Klimmeck
Dieser Beitrag erschien in der Fräulein Nr. 1/2016