Von ihr lernte ich Schwimmen, Fahrradfahren und Bescheidenheit. Vor allem aber lernte ich, wie grenzenlose Liebe aussieht.
Ein Liebesbrief an meine Großmutter
Es ist 9.00 Uhr morgens und ich komme, anders als am Abend zuvor besprochen, eine halbe Stunde zu spät nach unten. Bei ihr auf dem Land schlafe ich immer besonders fest. Der vertraute Geruch von Filterkaffee, Marmelade und irgendwelchen Salben liegt in der Luft. Meine Großmutter bereitet gerade das Mittagessen vor, das um 12 Uhr auf dem Tisch stehen soll. Ist ja schließlich Mittagszeit, erklärt sie mir, während sie Kartoffeln schält. Die Schalen gehören in die rote, zerkratzte Plastikschale – wie immer schon. Denn das ist die Schale für das Hasenfutter, das ich dann am Nachmittag zu den Nachbarn bringen werde – wie immer schon.
Der Einzige, der noch am ehesten so etwas wie Wert auf diese Uhrzeit legte, war mein Großvater. Das war damals die Zeit seiner Mittagspause. Er verstarb vor mittlerweile acht Jahren. Das Mittagessen ist trotzdem noch immer um Punkt zwölf fertig. Sein Bett ist auch noch bezogen. Von seinem voll bestückten Kleiderschrank ganz zu schweigen. Schon zig Mal bot ich ihr an beim Ausräumen zu helfen. Doch drängen möchte ich sie dazu nicht. Wer bin ich, Erinnerungsstücke aus den gemeinsamen mehr als 60 Jahren zu beseitigen? Bis heute bewahrt sie den allerersten Brief auf, den ihr mein Großvater damals schrieb. Anfang zwanzig waren beide damals. Ihre Augen werden glasig und ihre Unterlippe bebt, wann immer sie von ihm spricht.
Als ich sie in diesem Sommer für ein paar Tage besuchte, fühlte ich mich plötzlich zurück in meine Kindheit versetzt. Es war der Geruch vom warmen Holz der Gartenlaube, die in der prallen Sonne steht und der moosige Rasen ihres Gartens zwischen meinen Zehen. Die Häuser der Nachbarschaft, in deren Gärten wir als Kinder spielten und der mir so vertraute Tagesablauf meiner Großmutter. Ihre weiche Haut, wenn ich sie in den Arm nehme.
Aus irgendeinem Grund nahm ich all das viel intensiver wahr, als sonst.
Als Kind verbrachte ich den Großteil meiner Schulferien bei meinen Großeltern. Während meine Klassenkamerad*Innen in der ersten Stunde nach den Ferien von weiten Reisen und lustigen Ferienlagern berichteten, kam bei mir immer dieselbe Antwort. Welch aufregende Abenteuer und kostbare Erinnerungen sich jedoch dahinter verbergen, wurde mir erst im Erwachsenenalter bewusst. Genau wie die Erkenntnis, dass ich in meinem Alter mittlerweile zu den wenigen Glücklichen gehöre, die ihre Großmutter noch haben.
Als Kind konnte ich nicht einschlafen, ohne ihre Hand zu halten. Also legte sie sich neben mich und gab mir ihre von der Gartenarbeit raue, aber immer warme Hand. Dann erzählte sie mir Geschichten von früher, als sie so alt war wie ich zu diesem Zeitpunkt. Von Abenteuern auf dem Bauernhof ihrer Großeltern, von Streichen, die sie Erwachsenen gespielt hatte und von Jungs, die in sie verliebt waren, von denen sie aber nichts wissen wollte. Ich kannte die Geschichten irgendwann in und auswendig, bestand aber nach wie vor darauf, sie aus ihrem Mund zu hören. Während sie mir von früher erzählte, schloss ich die Augen und stellte mir vor, all das mit ihr gemeinsam zu erleben. Ich war mir sicher, dass wir beste Freundinnen gewesen wären.
Wenn ich bei ihr bin schauen wir uns alte Fotoalben an, feiern den 80. Geburtstag einer Freundin, trinken Eierlikör und gehen auf den Friedhof. Wenn ich bei ihr bin erhasche ich einen Einblick in eine andere Generation. In eine Generation mit anderen Möglichkeiten und Prioritäten. Alles ist dann entschleunigt. Der Austausch mit meiner Großmutter bringt mich auf den Boden der Tatsachen zurück und erinnert mich daran, dass Gesundheit tatsächlich das Allerwichtigste ist. Eine banal erscheinende Erkenntnis, die es sich lohnt in Erinnerung zu rufen.
Meine Großmutter ist mein Fels in der Brandung. Wann immer ich Rat suche, frage ich sie. Wenn meine Eltern – aus welchen Gründen auch immer – nicht für mich da sein konnten, war sie die verlässliche Konstante in meinem Leben. Meine Großmutter ist sich für nichts und niemanden zu schade, der großzügigste Mensch, den ich kenne und so wunderbar herzlich. Manchmal frage ich mich, ob ihre Liebe nicht so langsam ausgeschöpft sein müsste. Mit ihrer Hilfe schaffte ich mein Seepferdchen, mit ihrer Hilfe lernte ich ohne Stützräder Fahrrad zu fahren und mit ihrer Hilfe beendete ich erfolgreich mein Studium. Als Erste aus unserer engeren Familie. Es gibt keine Worte dafür, die annähernd wiedergeben können, wie dankbar ich ihr bin.
Meine größte Angst im Leben? Ohne sie sein zu müssen.
Beitrag: Penelope Dützmann
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