Warum man sich in jemanden verknallt, ist ein Mysterium. Das Aussehen ist wichtig, klar. Doch auch unsichtbare Botenstoffe wie das Dopamin. Unsere Autorin hat versucht, sich verführen zu lassen, und realisiert: gäbe es nur Tinder, würde die Menschheit bald aussterben.
Die somatischen Marker machen Bang!
Ich habe es wirklich versucht. Drei Jahre lang war ich Single und machte, was alle Singles in Großstädten tun. Ich meldete mich bei Tinder an. Das Angebot ist ja auch verführerisch. Man wischt durch eine riesige Anzahl von Fotos und Profilbeschreibungen und sucht sich, wie bei einer Pralinenschachtel nur das raus, was man mag, ganz unverbindlich. Glaubt man der urbanen Legende, sind über Tinder schon fast alle Arten von Beziehungen entstanden: leidenschaftliche One Night Stands, Freundschaften fürs Leben, stabile Ehen. Für mich war es eine Aneinanderreihung von Katastrophen.
Ein Bodybuilder, dessen Lieblingslied American Idiot ist, hatte ein Foto im Seitenprofil und eines seines Oberkörpers gepostet. Ich zog daraus den Schluss, dass er ein großes Herz haben müsse, wenn ihm die Frontalansicht seines Gesichts nicht so wichtig ist. Am vereinbarten Treffpunkt stand ein blasser, verschwitzter Mann, der leicht hinkte und Ähnlichkeit mit Frankensteins Monster hatte. Er lispelte und zeigte auf die Häuser um uns. „Genau dasch ischt mein Business. Immobilien. Allesch meins.“ Mein ganzer Körper schien in einen allergischen Ausnahmezustand zu geraten. Ich erzählte ihm, dass ich mich gerade mit Dokumentarfilm auseinandersetzte. „Alscho Tiere?“ Ich entschuldigte mich und rannte weg. Mit dem Programmierer aus Ägypten hielt ich immerhin ein Abendessen durch, was seinen Mundgeruch nicht überdecken konnte. Der ewige Jurastudent im rosa Hemd hatte mich pragmatisch in einen Irish Pub gleich neben seiner WG eingeladen, damit wir es nicht so weit bis zu seinem Schlafzimmer hätten. Ich zeigte mich irritiert. Er schrieb mir noch tagelang SMS, eine regelrechte Anklageschrift, in der er zu begründen versuchte, warum ich den Feminismus falsch verstanden hätte.
DER PERFECT MATCH IST NUR EINEN SWIPE ENTFERNT.
Einmal – immerhin – küsste ich einen Bartender, der so viel rauchte, dass er einen kreisrunden braunen Zigarettenabdruck auf den Vorderzähnen hatte. Aber: den Geruch und Geschmack von abgekühltem Zigarettenrauch auf der Haut mag ich. Was lernt man daraus, wenn man auf der Suche nach der Liebe ist? Das große Versprechen von Tinder ist erstmal ein altbekanntes: niemand muss mehr alleine sein. Der perfect match ist nur einen swipe entfernt. Aber so wie Fotos in dem Album einer Kuppler-Agentur vermag auch die Software einen wichtigen Faktor nicht zu ersetzen: die Körperreaktion bei der ersten Annäherung. Ist das Foto auch noch so sexy, die Natur hat es oftmals anders vorgesehen mit der Amore. Was lässt uns verrückt aufeinander werden? Im Moment des Zusammentreffens wirken selbstverständlich Faktoren wie Aussehen, Umgangsformen, kulturelles und soziales Kapital. Wir sind ja keine Einzeller mehr. Statistiken besagen, weltweit sei ein Hauptkriterium bei Frauen bei der Partnerwahl immer noch die social reputation . Bei Männern ist 28 es physical attractiveness. Ist das Nächstliegende also das ganze Geheimnis? Zum Glück nicht. Denn die Chemie der Liebe ist komplex und reagiert auf mehr als nur ein schönes Gesicht oder ein prall gefülltes Bankkonto.
Ob sich zwei Menschen begehren, hat viel mit unsichtbaren Faktoren wie Geruchsprächspräferenzen und sogenannten somatischen Markern (oder kurz SMH, vom Griechischen soma, für Körper) zu tun – so die gängige Hypothese des portugiesischen Neurowissenschaftlers António Rosa Damásio. Demnach würden emotionale Erfahrungen unsere Entscheidungsfindung entscheidend beeinflussen. Die Wahrnehmung des Anderen kann in uns Gefühle von Lust, Anziehung, Verbundenheit, Irritation, Angst und Ablehnung erzeugen – je nachdem, welche Erfahrungen wir mit Menschen eines ähnlichen Typs gemacht haben. Diese Erfahrungen sind als assoziative Muster im Großhirn gespeichert und werden dann mit Teilen des limbischen Systems verknüpft – jenem Teil des Gehirns, in dem Emotionen und Triebverhalten verarbeitet werden. Die verschiedenen Bereiche des limbischen Systems sind wiederum mit vegetativen Körperfunktionen verbunden. Das sind jene, die mehr oder weniger automatisch ablaufen, so wie die Regulierung des Herzschlags oder der Gleichgewichtssinn. Liebe auf den ersten Blick oder Fluchtgedanken? Kommt drauf an, ob die Chemie stimmt.
LIEBE AUF DEN ERSTEN BLICK ODER FLUCHTGEDANKEN? KOMMT DRAUF AN, OB DIE CHEMIE STIMMT.
Tut sie das, wird ein molekularer Sturm in Gang gesetzt. Verlieben sich zwei Menschen, ähnelt das einer Sucht. Die körperlichen Begleiterscheinungen sind erstaunlich ähnlich. Man kennt einige der chemischen Botenstoffe, beispielsweise das Dopamin, und kann ihre Wirkung via Gehirnscan verfolgen. Bei der Verliebtheit fokussiert man sich sehr stark auf eine Person und blendet alles andere aus. Dies ist wichtig, um die anfängliche Fremdheit zu überwinden und ein Gefühl von Nähe zu erzeugen. Während der Dopaminspiegel im Rausch der Gefühle zunimmt, nimmt ein anderer Botenstoff ab. Der Serotoninpegel von Verliebten ähnelt dem von Menschen mit einer Zwangsstörung. Der Hirnforscher Semir Zeki behauptet daher: „Liebe ist am Ende eine Form von Obsession.“ Neben Signalstoffen wie Östrogen, Progesteron, Testosteron und anderen werden auch körpereigene Opiate, Stickstoffmonoxid und noch viel mehr ausgeschüttet. In den Fokus der Forschung ist das Peptidhormon Oxytocin geraten, das sogenannte Bindungshormon. Es spielt eine zentrale Rolle bei der emotionalen Bindung zwischen Mutter und Kind. Und eben auch zwischen Verliebten, da es nicht nur bei der Geburt und beim Stillen, sondern auch beim Sex ausgestoßen wird.
Ich brauche Rat und rufe einen der wichtigsten deutschen Liebes- und Werteexperten an. Der Neurobiologe Gerald Hüther hat ein fantastisches Buch geschrieben über das komplexe Zusammenspiel zwischen Kopf und Herz, Sozialisation und Natur (Die Liebe ist ein Kind der Freiheit , Kreuz Verlag 2012). Hüther befindet sich geradeauf einer Geschäftsreise in der Oberlausitz. Meine Nachfrage scheint Unmut bei ihm hervorzurufen. Ob man die Liebe in eine einzige chemische Formel gießen könnte?
Natürlich nicht, antwortet er. Erst sei das Gefühl, dann das Dopamin. Wer sich nicht verliebt, stößt auch keine chemischen Stoffe aus. Und was hält er vom Online-Dating? Entfremdet uns das nicht von uns selbst? Alle Kulturformen müssten natürlich ihre Wege des Kennenlernens finden, sagt Hüther. Für problematisch halte er allerdings, dass der Zufall dabei immer mehr ausgeschlossen werde. Die eigenen Bedürfnisse drohen hinter rationalen Überlegungen zu verschwinden. Und Beziehungen, die aus Bilanzierung entstehen, würden nicht lange halten. Ein zweiter problematischer Faktor sei, dass das Suchen nach dem Gleichartigen verstärkt werde. Und das sei eben auch kein Faktor für eine stabile Beziehung. Eigentlich gebe es viel mehr Entwicklungsmöglichkeiten für Partner, die unterschiedlich sind. Und wie ist das mit dem Geruch? Das hatte die Evolution ursprünglich so eingerichtet, dass sich Partner mit möglichst unterschiedlichen Immunsystemen besonders anziehend finden. Auch hier geht es eher um die Andersartigkeit.
„Ich suche nicht nach meiner besseren Hälfte, sondern nach jemanden, der auch komplett ist“ - Jennifer Lawrence
„Wie wäre es, wenn sich beim Tinder-Date einfach jeder einen Stoß Oxytocin in die Nase versetzt?“, schlage ich vor. Geruch hin oder her. Einfach binden mit Chemie. „Das würde nicht funktionieren“, betont Gerald Hüther. Die Wirkung von chemischem Oxytocin sei bisher vor allem bei Kaninchen, Ratten und Nacktmullen dokumentiert. So ein Liebesnasenspray wäre natürlich der Traum eines jeden Pharma-Unternehmens. Aber der Mensch funktioniert nicht so einfach. Das körpereigene Oxytocin sei dennoch nicht zu unterschätzen. Da das Hormon hochkomplexe Lernprozesse unterstützt, ist es sehr hilfreich in der Bindungsphase, die ja eine Art sozialen Lernprozess darstellt. Und Bindung bei Menschenpärchen ist evolutionstheoretisch sinnvoll, denn der menschliche Nachwuchs ist verhältnismäßig lange auf die Pflege seiner Eltern angewiesen. Dass Partnerschaften übrigens nicht nur bei komplexen Vielzellern wie dem Menschen zustande kommen, beschreibt Gerald Hüther in seiner Publikation in einem faszinierenden Experiment. Einzeller wurden zusammen mit ihrem Lieblingsessen (vergammelte Blätter) in ein Glas mit Wasser geleitet. Sobald die Nahrung knapp wurde, fingen sie an sich zu spezialisieren. Während sich zu Beginn des Experiments noch die ganze Gruppe in der Mitte des Glases befand, wanderten nun Einige nach oben und arrangierten sich mit wenig Nahrung, aber genug Licht. Andere sanken auf den Grund, wo es noch genug Blattreste gab, aber kaum Lichtenergie. Irgendwann ging es den beiden Gruppen im Glas so schlecht, dass sie sich nicht weiter vermehren konnten. Dann passierte ein Wunder. Die verzweifelten Einzeller gaben Lockstoffe ab, trafen sich wieder in der Mitte, legten ihre Zellmembranen aneinander und tauschen durch die Verschmelzung genetische Informationen aus. Nachdem sie ihre zwei Erfahrungswelten miteinander geteilt haben, gingen sie etwas besser gerüstet wieder ihrer Wege. Eine schöne Metapher für gegenseitiges Lernen in Beziehungen. Tinder gebe ich jedenfalls auf. Die Lockstoffe der Liebe und ihre Chemie wirken ja trotzdem. Das hat die Evolution schon ganz gut arrangiert. Vor Kurzem war ich auf eine Geburtstagsparty eingeladen. Und endlich klickte es mal wieder. Ein seeräubermäßig aussehender junger Mann versetzte mich in helle Aufregung. Mein Körper wusste, dass wir sofort Kinder zeugen sollten. Kleine, starke, borstige, immunresistente Babies. Ich fürchte, ich funktioniere eher wie ein Nacktmull. Aber das kann ja auch eine freie Entscheidung sein. Ansonsten halte ich es wie Jennifer Lawrence. „Ich suche nicht nach meiner besseren Hälfte, sondern nach jemanden, der auch komplett ist“, postet sie vor einiger Zeit auf Instagram. Ein paar genetische Informationen dürfen allerdings auch gerne ausgetauscht werde.
Beitrag: Julia Zange
Collage: Durim Kraft