Es gibt Vieles, das ich an meiner Oma schätze. Am meisten aber bewundere ich, wie tolerant, stark und voller Liebe sie ist.
Die Heldin ist meine Oma
Alte Menschen seien auf alte Strukturen und Werte festgefahren, ließen sich nichts sagen und leben stur ihren Alltag, verschlossen für jede Veränderung. So hört man jüngere Menschen oft über Ältere reden.
Bei meiner Oma stimmt nichts von dem. Und falls sie doch mal genauso ist, wie man es von ihr als alte Frau (ich darf das so sagen) erwarten würde, dann lacht sie über sich selbst und ihr Alter. Das ist das Schönste. Wenn wir zum Beispiel zusammen kochen und ich die Petersilie anders zerkleinere, als sie das gerne hätte, korrigiert sie mich, lacht und sagt dann: “Ja, so ist das mit uns alten Frauen. Aber das lernst du auch noch kennen. Im Laufe der Jahre hat man eben so seine Eigenheiten entwickelt und auf diese Art funktioniert es am besten.”
Meine Oma ist einer der tolerantesten Menschen in meinem Leben. Wenn man dann ihr Alter bedenkt, müsste sie eigentlich noch einen Bonus dazu bekommen. Sie hätte von all den negativen Erlebnissen in ihrem Leben verbittert werden können, würde Menschen voreingenommen gegenübertreten und verschlossen für jede Veränderung sein. Aber so ist sie nicht, obwohl sie so viel erlebt hat.
Sie wuchs in der DDR auf, musste fliehen, war viel alleine und einsam, ihre Eltern haben sich getrennt, sie durfte nicht weiter zur Schule gehen, sie fror und manchmal hungerte sie auch. Heute sieht sie die Politik durch Zeitung und Fernseher und weiß genau, was Flucht auch heute noch bedeutet. Sie weiß es nicht nur, sie fühlt es. Sie spürt, wie sich andere fühlen müssen und hat eine so große Fähigkeit zur Empathie, dass man sie auf mehrere Menschen aufteilen könnte und jeder versorgt wäre.
Als meine Oma von dem Amoklauf in Parkland hörte und Emma González auf dem Titelblatt einer Zeitung sah, erzählte sie meiner Schwester und mir von der Stärke dieser jungen Frau, die sich für schärfere Waffengesetze einsetzt. Meiner Schwester erzählte sie am Telefon: „Und da dachte ich, Mensch, das ist die Zukunft der USA, diese Kinder, diese starken Menschen. Das ist unsere Zukunft, eure, wir machen ja nicht mehr so lange, das ist unsere und eure Hoffnung und da können sich diese Vögel noch so oft drehen und wenden, daran werden sie nie was ändern können. Musste ich dir kurz erzählen, das hat mich sehr froh gemacht.“
Eines Abends als wir zusammen auf unserem, eigentlich ihrem, Kanapee saßen, redeten wir über Homosexualität. Früher war es oft ein Tabuthema für die Generation meiner Oma, mit dem viele Menschen wenig vertraut waren, heute spricht sie mit mir darüber und fragt drauf los wie ein junges Mädchen. Da kam mir der Gedanke, dass es Fragen viel zu selten gibt. Ich glaube, viel zu viele Menschen urteilen zu früh, damit sie nichts fragen müssen. Denn das würde bedeuten, dass sie sich und anderen eingestehen müssten, etwas nicht zu wissen. Aber meine Oma fragt und zeigt mir, dass man nie zu alt ist, um neue Dinge zu verstehen und zu lernen und dass es niemals nichts mehr geben wird, das man nicht erfragen könnte.
Meine Oma ist auch meine Heldin der Liebe. Sie liebt meinen Opa und sorgt sich um ihn schon Jahrzehnte lang. Mich beängstigt der Gedanke, so lange mit jemandem zusammen zu sein und trotzdem, irgendwo wünscht es sich ein Teil von mir doch. Sie sieht es als ihre Verantwortung, bei meinem Opa zu bleiben und für ihn zu sorgen bis ans Ende. Für sie ist das ganz selbstverständlich und wird nicht in Frage gestellt. An ihrem Verantwortungsbewusstsein könnte ich mir auch mal ein Vorbild nehmen. Und ich hoffe, das tue ich. Vielleicht nicht sofort, aber doch irgendwann.
Meine Oma bringt aber nicht nur meinem Opa Liebe entgegen, sondern ihrer ganzen Familie. Auch Fremden, wenn sie mit mir im Wartezimmer sitzt und wir herumalbern und sich Unbekannte einklinken. Sie richtet Grüße an meine Freunde aus, egal ob sie sie persönlich kennt oder nicht. Sie schätzt sie wert, weil ich ihr erzähle, wie wunderbar sie sind. Es ist, als wären meine Freunde auch die meiner Oma, ohne dass sie sich untereinander kennen. Wenn ich eine Fremde für sie wäre, wäre es ein Glück, ihr eines Tages auf der Straße zu begegnen. Sie bedankt sich bei netten Kellnern noch einmal persönlich, bevor sie das Restaurant verlässt und sie bedankt sich bei Menschen, die ihr einen Platz in der Bahn anboten, noch einmal wenn sie aussteigt. Wenn ich mit ihr unterwegs bin, glaube ich fest daran, dass sie den Tag von vielen Menschen, denen wir begegnen, verschönert. Einfach, weil sie so ist wie sie ist.
Von meiner Oma lerne ich, dass für sich selbst und seinen Körper zu sorgen nicht egoistisch ist. Dass Auszeiten wichtig und menschlich sind. Dass Gesundheit wichtiger ist als Produktivität. Vor allem lerne ich, dass es das Wertvollste ist, sich Zeit für seine Lieben zu nehmen. Dass es okay und wichtig ist, sich nicht zu viel zu belasten und dass man manchmal einen Gang runter schalten muss, damit man selbst und der Körper noch hinter dem stressigen Leben herkommen. Das alles lerne ich von einer Frau, der ich genau dasselbe sage. Aber wir beide wirbeln herum und tragen von allen Terminen der Welt doch am liebsten „Bei Oma“ oder „Debbie kommt an“ in den Kalender ein.
Ich weiß nicht, ob meine Oma sich selbst als Feministin bezeichnen würde, aber ich weiß ganz genau, dass sie eine ist. Sie bewundert andere Frauen für ihre Stärke und ist dabei selbst eine der stärksten Frauen, die ich kenne. Sie nimmt die traditionelle Rolle der Frau ein, als Hausfrau und Mutter, die ihre drei Kinder erzogen hat, und schenkt anderen Frauen, die solche Leistungen bringen, ihren Respekt. Trotzdem weiß sie, dass Frauen diesem Bild nicht entsprechen müssen und dass Männer nicht das Recht haben, über Frauen zu bestimmen. Früher nicht und heute auch nicht.
Bei meiner Oma habe ich das Gefühl, sie durchschaut mich – egal wie sehr ich versuche, immer stark zu sein und mir nichts anmerken zu lassen – sie sieht meinen Schmerz und mein Glück. Und sie liebt mich für all das so sehr, dass es mir manchmal unbegreiflich ist. Sie sagt, ich solle gut auf mich aufpassen, weil sie mich doch brauche. Dabei bin ich diejenige, die sie am allermeisten braucht. Meine Oma sagt, sie ist immer für mich da und ich weiß garnicht, woher sie immer weiß, welche Worte ich brauche.
Wenn ich mit ihr rede, über meine Zukunft und meine Pläne und meine Krisen und meine Zweifel, dann sagt sie „Es kommt nicht darauf an, wer du bist, sondern wie du bist.“ Und ich hoffe, dass ich riesige Ähnlichkeit mit ihr habe, denn dann wäre dieser Teil von mir großartig.
Autorin: Deborah Schmitt
Foto: Caroline Schmitt