Die russischen Künstlerinnen LILIA LI-MI-YAN und KATHERINA SADOVSKY thematisieren in ihren teils drastischen Arbeiten die Folgen von Gewalt und entfesseltem Kapitalismus. Kann nur eine neue, feminine Macht Erlösung bringen?
In ihren theoretischen Texten kommt häufig das Wort corporeity vor, im Englischen ein heute selten gebrauchter Begriff, der grob mit Körperlichkeit übersetzt werden kann. Was bedeutet er ihnen?
Lilia Li-Mi-Yan (Lilia): In meiner Wahrnehmung der Welt spielt Körperlichkeit eine entscheidende Rolle. Der Körper selbst aber ist eine hermetische Hülle, seine Physis erlaubt nicht, in ihn hineinzuschauen. Durch die Empfindung der corporeity komme ich mit meinem Gegenüber erst wirklich in Kontakt. Begrifflich wie gedanklich werden Grenzen überwunden, das Subjekt wird transparent und emotional erfahrbar. Das ist eine notwendige und wichtige Empfindung, über die ich die Welt erst wirklich erlebe und mich mit ihr verbinde.
Beschreiben Sie diese Erfahrung.
Lilia: Für mich gibt es so etwas wie eine Gender-Melodie, vor allem, wenn ich über das Feminine nachdenke. Jede Frau trägt eine ganz eigene Tonlage in sich. Wie diese klingt, ist sehr individuell und abhängig von Zeitpunkt und Ort, aber auch von so etwas wie der sozialen Situation.
Sie schreiben in diesem Kontext, dass es heutzutage eine soziale Doktrin der „schönen und perfekten Körper“ gibt. War Schönheit aber nicht immer eine mächtige soziale Norm, schon lange vor Beginn des Kapitalismus?
Katherina Sadovsky (Katya): Sicher, die Schönheit als solche wurde immer begehrt. Aber doch hat sich hier etwas verändert. Nie wurden wir so ausdauernd und permanent mit „schönen und perfekten Körpern“ konfrontiert, wie heute – und das auf allen Kanälen. Der körperliche Schönheitsbegriff ist ein kommerzieller geworden. Ein solcher Körper ist verwertbar, etwa für die Werbung oder auf einer Modeschau. Also einigen wir uns auf ein quasi normiertes Ideal, immer in der Hoffnung und Erwartung, eines Tages auch einmal solch einen Körper haben zu können – oder zu besitzen. Dieser Begriff von Schönheit ist extrem limitiert, dabei jederzeit verfügbar und gleichzeitig auch wahnsinnig abstrakt. Ein Paradox, zugegeben, so dass mir oftmals unklar bleibt, was Menschen wirklich meinen, wenn sie von Schönheit sprechen. Geht es ihnen wirklich um Körper, oder doch einfach nur um Dinge oder gar Produkte? In diesem Sinne ist der Schönheitsbegriff des Kapitalismus neu und eigen: Er ist vollkommen ökonomisiert und für viele zu einem individuellen Investment in ihren Körper geworden.
In ihren Arbeiten spielt Sexualität eine wesentliche Rolle. Es gibt eine Definition des deutschen Arztes Eberhard Schorsch, nach welcher diese auch Akte wie träumen, fühlen, begegnen und erinnern beinhaltet. Können Sie damit etwas anfangen?
Lilia: Sexualität bedeutet für mich auf jeden Fall mehr als einfach nur zu fühlen oder zu träumen, denn Sexualität ist im Kern weder ein Vergnügen noch Unterhaltung. Damit verbunden sind Begriffe wie Erfolg, Attraktion, Begehren und vor allem die Macht. Ich denke dabei sofort an den Protagonisten aus Patrick Süskinds Das Parfüm, der von allen gemocht werden und gleichzeitig alle dominieren wollte. Ich sprach erst vor kurzem mit einem jungen Mann und stellte ihm die Frage: Wovon träumst du? Seine Antwort hat mich extrem überrascht. Er sagte, er wolle so sehr gemocht werden, dass jeder ihn wiedersehen, ihn wiederhören, mit ihm arbeiten, ihm Angebote machen wolle. Ist das nicht Sexualität im reinsten Sinne?
Katya: Ich glaube wie Schorsch, dass Sexualität in jeder menschlichen Handlung präsent sein kann. Auch wenn sie uns nicht kontrolliert: Alles was wir als Menschen tun, hat mit Sexualität zu tun. Wir wollen und können uns durch sie nicht nur physisch befriedigen, sondern auch unser Sozialleben, unser Denken, die Erfahrungen die wir machen, verändern und verbessern.
Kann Sexualität also auch eine Kraft der Befreiung sein?
Katya: Klar kann sie das. Etwa, wie schon erwähnt, als Begehren, die eigene soziale Situation zu verbessern. Wovon wir heute zehren können ist die Energie der Frauen, die vor uns gelebt und für unser aller Rechte gekämpft haben. Mit dem Medium der Sexualität kann ich als Künstlerin sprechen, ausrufen, kritisieren, Unzufriedenheit signalisieren, Angebote machen. Kunst ist auch Sexualität. Sie treibt uns an, sie ist mächtiger als Politik.
Sie können ihre Arbeiten in Russland oftmals nicht ausstellen. Warum gibt es diese Angst und Ablehnung vor ihrer Form von Sinnlichkeit?
Katya: Die Menschen in den Kunstinstitutionen sind offene und gebildete Menschen, sie lassen sich von unseren Arbeiten nicht schockieren. Aber sie fürchten, dass die Zuschauer noch nicht bereit dafür sind, verwundete nackte Körper zu sehen; dass unsere Arbeit als Aufruf zur Gewalt missverstanden wird, nicht als Kritik dieser Gewalt. Dazu gibt es in Russland Gesetzte, die die Gefühle von Minderjährigen und von Gläubigen schützen sollen. Darunter kann je nach Auslegungssache so ziemlich alles fallen. Interessanterweise gibt es in Russland kein Gesetz gegen häusliche Gewalt.