Nan Goldin fotografiert seit den Siebzigern ihre Freunde, manche sogar während sie starben. Diese intimen Porträts machten sie zu der bekanntesten Fotografin der Gegenwart. Als sich ihre Schwester umbrachte, war Goldin elf. Seitdem war der Tod immer eine Option für sie. Mit ins Grab nehmen wollte sie erst ihre Notizbücher, dann ihre Kamera und schließlich ihre Katze, aber nur wenn die zur gleichen Zeit stirbt wie sie.
Mein Freund, der Fotograf Nobuyoshi Araki, hat immer gesagt, dass jedes Foto ein bisschen wie der Tod ist. Auf Französisch bedeutet „einen kleinen Tod sterben“ einen Orgasmus haben. Für mich geht es bei der Fotografie immer um das Leben. Jedes Mal, wenn ich ein Bild mache, dann fühle ich mich mehr mit der Person verbunden, die ich fotografiere. In diesen Momenten intensiviert sich für mich das Leben. Ich habe viele Menschen lange begleitet und immer wieder fotografiert, manche von ihrer Kindheit bis zu ihrem Tod. Eine davon war Cookie Müller, die ich in ihren frühen Zwanzigern kennen gelernt habe. Bis zu ihrem Tod mit 40 Jahren war ich sehr eng mit ihr befreundet. Für mich geht es in der Fotografie darum, einen Menschen am Leben zu halten. Aber als ich nach ihrer Beerdigung Bilder von ihr zusammensuchte, wurde mir klar, dass das nicht funktioniert. Meine anfängliche Motivation als Künstlerin wurde in diesem Moment erschüttert. Ich wollte eine Dokumentation des Lebens meiner Freunde schaffen, die niemand in Frage stellen kann. Zumindest dachte ich das. Aber das stimmte nicht. Dieser Moment war eine Epiphanie für mich. Ich hatte das Gefühl, dass die Fotografie mich betrogen hat. Es war ein sehr machtvoller Betrug.
Ich hatte mal eine Nahtoderfahrung: 2000 arbeitete ich als Fotografin auf einem Set der Regisseurin Mira Nair in Neu Delhi. Wir waren ungefähr fünf Tage dort. An einem Tag wurde eine große Szene auf dem Boden in einem Swimmming Pool gedreht. Die große Honeymoon-Szene, in der fast alle Darsteller auf dem Boden des leeren Beckens getanzt haben. Mira Nair hat Tag und Nacht gefilmt. Ich lief eines Nachts am Rand des Pools entlang, an seinem tiefen Ende. Es war dunkel, mein Schuh verhakte sich in einem Abflussrohr, und ich fiel. Drei Meter tief. Ich hielt meine Leica in der Hand. Ich versuchte die Kamera zu schützen, während ich fiel. Ich halluzinierte, ich hätte ein Baby im Arm und musste es retten. Deshalb bin ich auf mein Handgelenk gefallen. Kurz nach dem Sturz dachte ich, ich wäre tot. Ich ging einen Korridor entlang und ich gelangte an eine Weggabelung, an der ich wählen konnte, ob ich leben oder sterben wollte. Ich glaube, ich habe in diesem Moment nicht geatmet. Es müssen Sekunden gewesen sein. Ich hatte die Wahl, den leichten Weg zu gehen, oder zu kämpfen und ins Leben zurückzukehren. Ich entschied mich für das Leben, weil mir der Tod in diesem Moment so dumm vorgekommen ist.
Ich hoffe, das ist nicht wahr, dass uns nach dem Tod eine Ewigkeit aus Dummheit erwartet. Das ist der schrecklichste Gedanke, den ich mir vorstellen kann. Ich verbrachte die restliche Zeit in Neu Delhi in einem Krankenhaus und wurde dann in die Schweiz geflogen, wo mich ein sehr schlechter Chirurg behandelte. Danach musste ich zwei Jahre lang immer wieder an der Hand operiert werden.
Meine Schwester brachte sich um, als ich elf war. Ich weiß, wie hart es ist, zurückzubleiben. Aber ich respektiere, was sie getan hat. Für sie war es eine selbstbestimmte Tat, ein autonomer Akt. Ich vermisse sie immer noch. Ich habe 2004 eine große Arbeit mit dem Titel „Sisters, Saints & Sibyls“ über sie gemacht. Eine große Installation auf drei nebeneinanderstehenden Leinwänden. Bei der Premiere in der La Chapelle de la Salpêtrière in Paris fielen 350 Menschen in Ohnmacht. Daraufhin bin ich sehr stolz. Ich mag Kunst, bei der Leute in Ohnmacht fallen. Leute sagen mir, dass sich meine Arbeit nach „Sisters, Saints & Sibyls“ verändert hätte. Sie sei hoffnungsvoller und leichter geworden. Ich weiß es nicht. Was ich sagen kann ist, dass ich durch den Selbstmord meiner Schwester mein ganzes Leben mit dem Tod gelebt habe. Er war immer eine Option. Und obwohl ich das sage, glaube ich: Ich bin die Person, die nicht stirbt. Jeder andere wird sterben, aber es tut mir leid.: ich nicht. Das ist ein unterbewusstes Gefühl. Überall, wo ich bin, besuche ich Friedhöfe und fotografiere dort. Das ist eine Obsession seit den Siebzigern. Eine Zeitlang war ich von der Idee fasziniert, dass Menschen zusammen sterben wollen. Also habe ich seit 1979 Paare auf Friedhöfen auf der ganzen Welt fotografiert. Ich war auf Friedhöfen in Thailand, in Japan, in Südamerika. In Japan machen sie ein Picknick, um die Toten zu ehren und waschen die Grabsteine. In Polen war ich mal mit meinem Freund auf dem Friedhof, auf dem seine Großmutter lag. Aber das Grab war verschwunden, da niemand mehr für die Grabstätte gezahlt hatte. Es wurde jemand anderes auf ihr beerdigt. Ich suche auch nach versteckten Botschaften, die bedeuten könnten, das sich eine Person umgebracht hat. Auf einem Tierfriedhof habe ich einen Grabstein fotografiert, auf dem stand “You could never do anything wrong”. Der letzte Friedhof, den ich fotografiert habe, war in Venedig, Ein sehr schöner Friedhof. Auf ihm gibt es eine Abteilung, in der Babys beerdigt werden, die tot geboren, oder kurz nach der Geburt gestorben sind. Ich habe auch obsessiv Grabsteine von Menschen fotografiert, die im gleichen Alter meiner Schwester gestorben sind. Neben meiner Schwester ist eine Frau beerdigt, die in etwa im Alter wie meine Schwester ist. Ich hoffe, sie haben eine gute Zeit zusammen.
Die ganze Welt ist eine Illusion basierend darauf, dass man nicht an den Tod denken soll. Die Religionen, der Konsum. Man sagt, auf dem Sterbebett wendet man sich Gott zu. Mein Vater ist 98 und glaubt immer noch nicht. Er hat mich als Atheistin aufgezogen und mir schon mit vier Jahren von dem großen Nichts im Weltall und von schwarzen Löchern erzählt. Ich könnte nie an Gott glauben. Unmöglich. Mein Vater interessiert sich für die Wissenschaft. Er war fasziniert von Stephen Hawkings Buch “Der große Entwurf”. Er glaubt, dass in ihm die Wahrheit über den Tod liegt. Ich verstehe nicht, wie er das meint, aber es ist sehr interessant. Ich wüsste nicht, was ich machen würde, wenn mein Vater stirbt. Alexander McQueen brachte sich um, nachdem seine Mutter gestorben war. Ich verstehe das. Die Leute in der Modeindustrie sind so zynisch und glauben, er hätte das getan, weil es geschäftlich nicht gut lief. Sie sind nicht in der Lage, die Emotionalität in seinen Selbstmord zu akzeptieren.
Eine Zeitlang wollte ich, dass auf meinem Grabstein steht: “She tasted like chicken”. Das ist eine Redensart, mit der man etwas beschreibt, das ungreifbar ist und schwer einzuordnen. Dann wollte ich, dass darauf “I am sorry” eingemeißelt wird, aber das habe ich jetzt als Tattoo. Dann wollte ich eine Liste darauf schreiben lassen. So etwas wie: eine Dusche nehmen, essen, sterben. Ich bin ein zwanghafter Listenmacher. Jetzt bin ich mir nicht sicher.
Ich habe von 24 bis 50 Jahren Tagebuch geführt. Das war wie eine Obsession, ein Weg, am Leben zu bleiben. Ich konnte ausgehen, so viel ich wollte, machen, was ich wollte, denn ich hatte ja alles aufgeschrieben. Am nächsten Tag würde ich mich erinnern. Ich schrieb sogar, wenn ich Sex hatte. Bevor das Moleskine wieder groß rauskam, gab es ein anderes italienisches Notizbuch, das ich immer benutzt habe. Es sah ein bisschen so aus, war aber schöner. Ich besaß hunderte davon, und ich habe immer mit einem ganz speziellen Stift geschrieben. Ich wollte also möglichst viele Notizbücher und Stifte mit mir ins Grab nehmen. Ich hatte angefangen, als mich jemand verlassen hat, der einen wichtigen Einfluss auf mich hatte, aber irgendwann brauchte ich das Tagebuchschreiben nicht mehr. Von einem Tag auf den anderen habe ich damit aufgehört. Dann wollte ich mit der Kamera beerdigt werden. Jetzt wäre es vielleicht ein Cashmere-Schal für Männer, denn so einen trug ich immer, wenn ich ins Krankenhaus musste. Am schönsten wäre es, meine Katze mitzunehmen. Meine erste Katze starb mit 21, eine Woche vor den Terroranschlägen am 9.11.2001. Meine neue Katze ist jetzt ungefähr 10 Jahre alt. Vielleicht wird sie nicht viel länger leben als ich. Würde ich sie einschläfern lassen, wenn ich vor ihr sterbe? Nein, nicht wirklich. Ich hoffe, wir werden zur gleichen Zeit sterben.
Nan Goldin wurde 1953 in Washington geboren und prägte mit ihrer Fotoästhetik unzählige zeitgenössische Fotografen. Ihre bekannteste Arbeit ist “The Ballad of Sexual Dependency”. Sie pendelt zwischen Berlin, Paris und New York.
Foto: Nan Goldin
Protokoll: Hendrik Lakeberg
Dieser Beitrag erschien in der Fräulein Nr. 4