Der Film Wonder Woman bricht alle Rekorde. Dabei ist die Geschichte hinter dem Comic noch viel fantastischer. Eine Erzählung über die erste feministische Ikone des Pop.
Wonder Woman: Das Lasso der Wahrheit
Es war einmal eine Prinzessin namens Diana. Sie lebte auf Paradise Island, das von Amazonen bewohnt war. Eines Tages stürzte der gutaussehende Pilot Steve Trevor dort ab. Prinzessin Diana pflegte ihn gesund und verliebte sich. Doch Steve musste zurück in die Männerwelt, in der die Amerikaner Nazis und Japaner bekämpften. Um Steve zu helfen folgte sie ihm und tarnte sich fortan als Sekretärin. Sobald Gefahr in Form von Räubern, Nazis oder anderen Schurken auftauchte, rannte sie auf die Damentoilette, um als rot-weiß-blaue Wonder Woman zurückzukehren. Ihre Waffen waren kugelabwehrende Armbänder, mit denen sie Schüsse auf die Gegner zurücklenkte, und ein magisches Lasso. Jeder Mann, den sie damit einfing, musste die Wahrheit sagen.
Der Schöpfer dieses Märchens hieß William Moulton Marston (toller Name!) und war ein ziemlich exzentrischer Typ. Eigentlich studierter Jurist, hatte er einen Blutdruckmesser erfunden, der die „wahren Gefühle“ der Menschen messen sollte. Damit stellte er angeblich fest, dass der Kuss eines Fremden Frauen heftiger erregt als ein Kuss ihres Ehemanns. Außerdem wies Marston nach, dass Brünette wie Wonder Woman verführerischer und Blondinen passiver seien. Marston besaß also auch eine Art Lasso der Wahrheit.
Diese populärwissenschaftlichen Experimente machten Marston berühmt, beendeten aber seine akademische Karriere. Seine Frau Elizabeth Holloway Marston, eine hochintelligente Psychologin mit drei Universitätsabschlüssen (und das zu einer Zeit, in der es überhaupt nur wenige studierte Frauen gab), sorgte für den Lebensunterhalt. William versuchte, mit seinem „Lügendetektor“ Geld zu verdienen und versicherte der Firma Gillette, ihre Klingen würden beim Verbraucher weit angenehmere Gefühle hervorrufen als jene der Konkurrenz. Das FBI überprüfte das und hielt William Marston für einen Betrüger – nutzte jedoch Jahre später dessen Erfindung, um Verbrechen aufzuklären.
Marston wurde zunächst Ratgeberonkel bei einer Frauenzeitschrift. Dort ließ er sich des Öfteren von einer gewissen Olive Byrne interviewen, einer hübschen Brünetten mit auffälligen Armbändern, genau solchen, wie sie später Wonder Woman tragen würde. In einem dieser Interviews mit ihr verteidigte er das neue Genre des Superhelden-Comics und bekam daraufhin prompt eine Einladung von Max Gaines, einem berühmten Comic-Verleger. Elisabeth Marston schlug eine weibliche Superheldin vor, aber Gaines sträubte sich zunächst. Das hätte noch nie funktioniert, da Jungs muskulöse Männer in hautengen Anzügen sehen wollten. Aber da William Moulton Marston ein echter Schriftsteller war – er hatte ein paar seltsame Romane geschrieben, darunter den Bondage-Roman Venus with Us, und im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Superhelden-Autoren studiert –, ließ sich Gaines überreden.
1941 erschien die erste Ausgabe von Wonder Woman. Sie war die erste Superheldin und ist neben Superman und Batman die einzige Comicfigur aus dem sogenannten Goldenen Zeitalter, die bis heute überlebt hat; Spiderman, Hulk, die Fantastischen Vier – sie alle kamen erst später.
In Wonder Womans Abenteuern kommt die krude Mischung von William Moultan Marstons INteressen zum Ausruck: Seine klassische Bildung in Form antiker Figuren, seine schrägen Experimente und Erfindungen sowie seine Beschäftigung mit den derben Aufnahmeprüfungen der Schwesternschaften an amerikanischen Universitäten. Daher stammt der Charakter der bonbonsüchtigen Etta Candy, die in Babykleidung herumläuft wie die Neulinge beim Aufnahmeritual.
Erstaunlicherweise gelingt es den Bösewichtern (die bei Wonder Woman übrigens oftmals auch Frauen sind, selbst der eklige Dr. Poison ist in Wahrheit die wunderschöne japanische Prinzessin Maru) in jedem Abenteuer, die Armbänder von Wonder Woman zusammenzuschließen. Derart gefesselt verliert die mächtige Heldin ihre Superkräfte. Wonder Woman wird überhaupt dauernd gefesselt und es fliegen sehr viele Peitschenschnüre. Der Verlag bekam Fanbriefe von Sadomasochisten, Pädagoginnen kritisierten die Fesselungen und Gewalt gegen Frauen. Woraufhin sich Marston verteidigte und argumentierte, Superhelden müssten nun mal in Gefahr geraten, Schläge für weibliche Superhelden seien im Zuge der Gleichberechtigung unvermeidlich, Fesseln und Peitschen wenigstens nicht so brutal wie Kugel und Messer. Außerdem solle Wonder Woman zeigen, dass Fesselspiele auch ein Vergnügen sein können, denn Frauen liebten nunmal die Unterwerfung.
Trotz solcher Thesen war Marston Feminist und Wonder Woman als feministischer Erziehungsroman für Jungs wie auch als Selbstermächtigungsfibel für Frauen gedacht. Es war Marstons These, dass die Männer aufgrund ihrer erotischen Bedürfnissen von der Gunst der Frauen abhängig seien. Diese würden daher noch im Zwanzigsten Jahrhundert die Welt beherrschen und mit Liebe regieren. Frauen hätten nämlich doppelt so viele liebemachende Organe wie Männer, es fehle ihnen nur an der Dominanz. Das meinte Marston ernst. So lautete sein Rat an die Autoren des Comics: Der Mann, nicht die Frau unterwirft sich in der Liebe (sein Lieblingsfilm war übrigens Der Glöckner von Notre Dame, in dem die Heldin Esmeralda nur sanft gefesselt, der bucklige Glöckner aber brutal gebunden und ausgepeitscht wird).
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kam Wonder Woman wie alle Superhelden in eine Identitätskrise. Bösewichter wie Captain Nazi und Captain Swastika waren nicht mehr zeitgemäß. Comics wurden von einem deutschstämmigen Psychologen namens Frederic Wertham für Jugendgewalt und Homosexualität verantwortlich gemacht. Das Verhältnis von Batman zu Robin und die Amazonen aus Wonder Woman, die mehr küssten als kämpften, waren ihm zu schwul.
Die ganze Zeit über lebte William Moulton Marston harmonisch mit zwei Frauen zusammen, mit der blonden Elisabeth, die Wonder Women miterfunden hatte, und der brünetten Olive. Mit beiden hatte er jeweils zwei Kinder. Mit fünfzig Jahren bekam Marston Kinderlähmung und starb wenig später an Lungenkrebs. Beiden Frauen lebten auch nach seinem Tod weiter zusammen. Die Geschichte von Wonder Woman ging indes weiter. Die Amazone erschien auf der ersten Ausgabe des von der amerikanischen Feministin Gloria Steinem gegründeten Magazins Ms. In den vergangenen 74 Jahren durchlief die knapp bekleidete und oft gefesselte Heldin dann zahlreiche Wandlungen. Aus der Originalversion, gesetzt im griechisch-antiken Kosmos, unterlegt mit der eigenartigen Theorie ihres Schöpfers, wurde ein romantisches All-American-Girl, dann eine feministische Ikone. Das ist das Tolle an Superhelden: je nach Lesart und Zeitalter lassen sie sich mit Bedeutung auffüllen, niemand stört sich an den Widersprüchlichkeiten und jede Leserin kann ihre Seele in Wonder Woman entdecken.
Text: Lorenz Schröter
Fotos aus dem Buch “Wonder Woman – The Complete History” von Les Daniels, Chronicle Books.
Dieser Beitrag erschien in der Fräulein Nr. 14