Die aus Oslo stammende Musikerin vereint Jazz, R&B, elektronische Twists und noch viel mehr zu einem einzigartig warmen und nostalgischen Klang. Im Interview mit Fräulein kartographiert sie eine Vielzahl ihrer Erfahrungen und Einflüsse, angefangen von den vielen Reisen während ihrer Kindheit, über die magische Rooftop-Party in Brooklyn zur Sommersonnenwende letzten Jahres, bis hin zu ihrem derzeitigen Ruhepol Berlin.
Charlotte dos Santos: Das Reisen um die Welt für Musik und sich selbst
Charlotte dos Santos stammt aus einer afro-brasilianischen Künstlerfamilie, in der zwar keiner eine professionelle Musikkarriere eingeschlagen hat, aber die Liebe zur Musik so prägend war, dass sie schon früh mit einer Flut an vielfältigsten Genres – von Bossa Nova über Samba bis hin zu Jazz – in Berührung gekommen ist. Ihre Musik formte sich nicht zuletzt durch ihre vielseitige Ausbildung, die sie rund um den Globus geführt hat, und überzeugte schließlich das Plattenlabel Fresh Selects, auf welchem ihre erste EP Cleo letztes Jahr erschien. Von afro-kubanischem Sound bis hin zu italienischer Bibliotheksmusik schimmert in jedem Track durch, dass sie viel gesehen, viel verinnerlicht und viel zu erzählen hat.
Was hat dich heute beschäftigt und zum Lächeln gebracht?
Zurzeit finalisiere ich meine Debüt-LP und nehme Ende diesen Monats die letzten Streicharrangements dafür auf. Das hat mich heute wirklich zum Lächeln gebracht. Ich bin sehr gespannt auf dieses neue Kapitel. Das Gefühl, an einem neuen Anfang zu stehen, ist unfassbar.
Du kommst aus Oslo, hast in England, Spanien und den USA studiert, und nennst inzwischen Berlin dein Zuhause, nachdem du eine Weile in Brooklyn gelebt hast. Wie haben all diese verschiedenen Orte und ihre lokalen Musikszenen auf dich eingewirkt?
All diese Orte haben mich zu der Person gemacht, die ich heute bin, sowohl was meine musikalischen Ausdrucksweisen angeht, als auch meinen Charakter. Ich bin schon immer tief in verschiedene Genres eingetaucht und muss meinen Eltern dafür danken, mir sowohl brasilianische als auch norwegische Kultur nahegelegt zu haben. Und dafür, dass sie sich so leidenschaftlich für meine Musik interessieren.
Meine Mutter hat sich wirklich Zeit dafür genommen, meine Schwester und mich während unserer Kindheit zu unkonventionellen Reisezielen mitzunehmen. Das hat eine gewisse Neugier – womöglich sogar Sucht – dafür entfacht, andere Kulturen und Musikgenres kennenlernen zu wollen. Ich habe mich früh für Geschichte und ethnologische Musikwissenschaft begeistern können und war schon immer bereit dazu, meinen Heimatort dafür zu verlassen. Von daher hatte ich nie Angst davor, meine Sachen zu packen und Ozeane zu überqueren. Ich bin froh darüber, dass ich für längere Zeit in all diesen Orten leben konnte, weil du zwar viel beobachtest und absorbierst, aber gleichzeitig deine eigenen Sachen verfolgst und es Zeit braucht, um diesen Schwall an Eindrücken zu verinnerlichen. Wenn du mittendrin bist, denkst du nicht wirklich darüber nach, aber nach einer Phase der Verarbeitung und Reflektion kann ich inzwischen hören und sehen, welche Dinge zu mir durchgedrungen sind, bei mir geblieben sind, zu einem Teil von mir geworden sind und meinen Denkprozess formen, wenn ich Musik schreibe.
Allein schon die Möglichkeit zu haben, neben Jazz in der Schule andere Stile zu studieren hat mich richtig befreit und verspielt gemacht – von Flamenco über mediterrane Arrangements bis hin zu ghanischem Schlagzeugspiel und afro-kubanischer Musik. Auch Berlin hat natürlich seine akustischen Spuren auf mir hinterlassen. Es wird also sehr aufregend, die Musik von meinem ersten Album dieses Jahr mit Anderen zu teilen.
Viele haben deinen Klang als zeitlos, intim und verletzlich gelobt. Welche Eigenschaften sprechen dich in jeglichen künstlerischen Disziplinen am meisten an? Gibt es Worte, die du gern verwendest, um deinen Stil zu charakterisieren?
Ich denke, ich mag das Wort „Wahrheit“. Weil mir Aufrichtigkeit so wichtig ist. Egal, um was für ein Medium oder Genre es sich handelt – ich fühle mich vor allem zu einer Art aufrichtigem Kern hingezogen. Ich denke, es gibt da eine Verbindung zwischen Aufrichtigkeit und Verletzlichkeit, weil du wirklich introspektiv sein musst, dich viel „innendrin“ umschauen musst, um zu erfassen, was dort ist. Und um letztendlich mutig genug dafür zu sein, diese Dinge der Öffentlichkeit zu zeigen. Ich glaube daran, dass Authentizität erkannt und verstanden wird. Wenn du dazu fähig bist, dich zu öffen, wird das Anklang bei Menschen finden. Nicht nur lyrisch, sondern auch akustisch.
Aus einer technischeren Perspektive würde ich sagen, dass meine Musik in gewisser Weise eklektisch ist, weil ich von sovielen Stilen und Klängen inspiriert bin – dabei kann es sich auch einfach um Vogelgezwitscher oder Kirchenglocken handeln. Ich mag es generell, Feldaufnahmen in meine Musik einzubetten und eine Bildsprache zu gestalten, die die Lyrics und den musikalischen Teppich entsprechend begleiten kann.
Ich selbst bin zum ersten Mal auf dich aufmerksam geworden, als ich dein Set mit „music to morning commute“ auf i-D gefunden habe. Es hatte vor allem einen beruhigenden Effekt auf mich – danke dir dafür! Wie schaffst du es, dir Ruheoasen und friedliche Momente in deinem regen Alltag zu schaffen?
Ich bin froh, dass es dir gefallen hat! Musik wirkt definitiv therapeutisch auf mich. Es gibt aber auch Zeiten, in denen ich mich sogar davon vollkommen distanzieren will.
Ich bin ein sehr visueller Mensch – mir ist wichtig, Kunst zu sehen und viel Zeit in der Natur zu verbringen. Das war übrigens auch einer der Gründe, der mich dazu bewegt hat, aus New York zurück nach Europa zu ziehen. Ich brauchte genau das: Ich musste mich sammeln, innehalten. Das hektische Jahr, das ich dort verbracht habe, reflektieren und verarbeiten. Berlin hat es mir ermöglicht, diesen Headspace zurückzugewinnen; ich bin hierher gekommen, um an meinem zweiten Projekt zu schreiben. Das habe ich nun geschafft. Generell war 2018 bisher ein sehr introspektives Jahr für mich … Ich habe es aber auch vermisst, zu reisen, und deswegen meinen ersten, richtigen Urlaub seit drei Jahren organisiert. Plötzlich fand ich mich in Spanien und Marokko wieder. Dazu kam eine Künstlerresidenz in Japan, welche meine Weltsicht nochmals abrupt verändert hat – ich bin also absolut abhängig von neuen Umgebungen, wenn es darum geht, zurechnungsfähig und inspiriert zu bleiben!
Hast du bevorzugte Quellen für visuelle Inspiration? Deine sehr verschiedenen Musikvideos lassen ja ein weites Spektrum erahnen – vom gotischen, melancholischen 16mm-Look von “King of Hearts” über die minimalistischen, bunten Visuals von “Red Clay”, bis hin zum kinematischen “Watching You”.
Ich interessiere mich sehr für Kino und Film! Vieles kommt also von dort, aber auch von visueller Kunst und Dokumentationen. Ich träume ziemlich lebhaft, was ich hin und wieder ebenfalls einbauen kann. Viele großartige Künstler*innen kenne ich auch persönlich, und sie alle inspirieren mich. Die Projektionen in Red Clay stammen zum Beispiel von meiner Freundin Marina Oriente. Wir haben uns in New York kennengelernt und nach einem gemeinsamen Trip durch ihr Archiv entschieden, dass es die perfekte Bilderwelt ist, um auf meinen Körper projiziert zu werden, weil ihre multimediale Arbeit so sehr an die Puppen während des Metamorphoseprozesses erinnern.
“Watching You” kam zustande, als ich noch in Valencia gewohnt habe und sich schon viele Ideen durch mein Nebenfach Spanische Kunst und Geschichte angesammelt hatten. Das Konzept von Cleo hat dort ebenfalls Form angenommen: Auf die Festung, in der wir gedreht haben, sind wir durch eine Recherche über maurische Burgen rund um Valencia aufmerksam geworden. „King of Hearts“ ist von Ingmar Bergmans Das Siebte Siegel und Sergei Paradschanows Die Farbe des Granatapfels inspiriert. Ich fand das Video passend zur dystopischen Stimmung des Liedes. Cleo ist nicht zuletzt eine mittelalterliche, maurische Königin, also wollte ich sie in diesem Raum porträtieren, um die Anomalie zu dekonstruieren, die mit der Wahrnehmung von Women of Color einherkommt – wir waren sehr wohl präsent zu diesen Zeiten und in diesen Umgebungen.
Sind es solche Intentionen, die deine Hauptmotivation ausmachen? Was bringt dich zum Schreiben?
Ich denke, dass die meisten Künstler*innen und Musiker*innen Kunst schaffen müssen, um bei Vernunft zu bleiben. Ich könnte nicht ohne sie leben – ich würde unfassbar traurig und unruhig werden, weswegen das schon eine Motivation an sich darstellt. Ich bin sehr spontan, wenn ich mich kreativ fühle – es kann ein Gefühl sein, das ein bestimmtes Genre in mir auslöst und den Prozess in Gang bringt. Aber generell schreibe ich immer über meine persönlichen Erfahrungen. Das geht soweit, dass meine Musik manchmal zu einem Tagebuch wird.
Hast du eine Vorstellung davon, was deine Zuhörer*innen dabei empfinden sollen? Wie nah lässt du Meinungen von Anderen an dich und deine Kunst heran?
Soviel habe ich noch gar nicht darüber nachgedacht – ich hoffe nur, dass meine Musik irgendwie Anklang bei jemandem findet, sie oder ihn inspiriert, oder dazu ermutigt, etwas zu konfrontieren! Bisher bin ich auch noch nicht soviel Kritik begegnet, aber da gab schon sowohl Konstruktives, als auch einfach straight-up Getrolle. Ich denke, man muss für sich selbst festlegen, wieviel Energie man in die Berücksichtigung von jeglichen Meinungen stecken will. Vor allem heutzutage, wo so viele starrsinnig sind. Falls es sich um jene Art von Kritik handelt, die hilfreich agieren soll und beispielsweise von Freunden kommt, dann werde ich ihr zuhören. Aber sonst mühe ich mich nicht daran ab, Kommentare usw. zu lesen, da sich das kontraproduktiv auf deine künstlerische Entwicklung auswirken kann.
Gibt es Frauen, die dich sehr inspiriert haben – sowohl im Leben als auch in der Kunst?
Meine Urgroßmutter und meine Großmutter sind große Vorbilder. Ich stamme von extrem starken Frauen ab, die so viel Elend durchgemacht und so ein anderes Leben geführt haben. Ich verdanke ihnen – und dem, was sie unserer Familie zuliebe geopfert haben – mein Leben. Ich kenne nicht einmal die Hälfte ihrer Geschichten, aber je mehr ich über sie erfahre, desto mehr weiß ich meine Existenz und mein Erbe zu schätzen. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, sind sie wahrscheilich meine größte Motivation.
In Sachen Musik sind meine Patinnen Celia Cruz, Sarah Vaughan, Carmen McRae, Erykah Badu und Nancy Wilson … und noch soviele andere, großartige Frauen!
Was würdest du für ein Leben führen, wenn du keine Musikkarriere eingeschlagen hättest?
Das einer Astrologin! Pseudowissenschaft passt so perfekt zu mir. Ich bin zu stur, um nur an Schwarz und Weiß zu glauben. Physik und Mathe waren übrigens meine größten Schwächen in der Schule, also ist Astronomie leider ein No-Go.
Gibt es ein Ereignis in deiner bisherigen Karriere, an das du dich am liebsten erinnerst? Und was hast du für den verbliebenen Rest des Jahres geplant?
Der Release meiner Debüt-EP Cleo zur Sommersonnenwende am 21. Juni letzten Jahres ist eine meiner Lieblingserinnerungen. Ich habe meine Freunde zu einer Rooftop-Party in Brooklyn eingeladen und soviel Essen gekocht. Soviel Gebäck aus dem Café mitgenommen, indem ich damals gearbetet habe. Alle haben zum Sonnenuntergang und die ganze Nacht unter freiem Himmel getanzt. Es war sehr magisch und es gab sogar Schwalben, die gefühlt mit uns getanzt haben und ich bin mir sicher, dass es meine Großmutter war, weil Schwalben ihre Lieblingsvögel waren.
Für den Rest des Jahres habe ich meine erste Tour mit Cleo im Herbst geplant. Die Daten dafür werden schon bald bekanntgegeben. Und ich werde einpaar Singles von meinem neuen Projekt veröffentlichen, hoffentlich bis zum Ende des Sommers. Also haltet Ausschau dafür!
Interview: Dieu Linh Nguyen Xuan
Bilder: Mostafa Doubain / Joanna Legid