Chili war das erste globale Superfood, ein Aphrodisiakum für Könige. Heute essen zwei Milliarden Menschen täglich scharf. Dabei wird aus Angst Erregung und aus Schmerz Glück. Die Liebeserklärung einer Süchtigen:
Besser als Sex
Wenn es ums Essen geht, denke ich mit Grusel an meine ersten Jahre in Deutschland: totgekochter Rahmspinat, marsch weiche Nudelsalate mit Konservenerbsen, labberige Wurstbrote. Seit den Neunzigern ist viel passiert: der Siegeszug von Japanisch, Thai und Vietnamesisch, der Hype um Avocado und Bio-Burger. Die Italiener sind besser geworden, und jeder, der etwas auf sich hält, kocht Ottolenghi-Rezepte nach. Trotzdem bin ich kulinarisch nie in Deutschland angekommen. Das hat zum einen damit zu tun, dass es von Flensburg bis Freiburg bis heute so gut wie keine gute chinesische Küche gibt. Der zweite traurige Grund: Kaum jemand in diesem Land isst richtig scharf. Damit meine ich nicht den optionalen Spritzer Sriracha-Sauce im heruntergewürgten Thai-Curry, nicht die zwei dekorativen Chilistreifen in der Pho, nicht die drei Tropfen Tabasco im Burrito, die den normale Mitteleuropäer schon dazu verlassen, sich mit der Hand Luft zuzufächeln und „hui, pikant!“ zu rufen. Mit scharf meine ich ein Stechen und Brennen auf der Zunge, das als angenehm-leichte Kribbeln beginnt und sich zum mittelschweren Flächenbrand steigert: Die Speiseröhre fängt Feuer, der Magen schmerzt, das Adrenalin rast, bis dann, endlich, der Körper den erlösenden Endorphin-Kick durchs Hirn schickt. Alte Suchtregel: Je früher der Erstkontakt, desto größer später die Abhängigkeit. Als ich noch bei meinen Großeltern in Südchina lebte, war jede Mahlzeit ein Fest. Mein Tag begann mit Reisnudeln in Rinderbrühe zum Frühstück, obendrauf gab es einen gehäuften Löffel fermentierter Chilischoten, die so viel Kraft hatten wie ein Tritt in die Magengrube. Nachmittags kauften meine Cousine und ich am Kiosk statt Lutschern getrocknete Tofuhaut in Chiliöl. „Ohne Chili macht das Leben keinen Spaß“, war ein Mantra in meiner Familie, die aus der Provinz Hunan stammt – wie Mao Zedong. Einer seiner Leitsprüche lautete ähnlich: „Ohne Chili keine Revolution“.
KURATIERTE SCHÄRFE
Unsere Heimatregion Hunan (heimlicher Werbeslogan „Keine Angst vor Schärfe“) bildet zusammen mit der Provinz Sichuan („Angst vor keiner Schärfe“) und einigen anderen Regionen den chinesischen Chili-Gürtel, der selbst wiederum nur ein Abschnitt im großen, weltumspannenden Chili-Gürtel ist. Zwei Milliarden Menschen auf der Erde essen täglich Chili: Neben mehreren hundert Millionen Chinesen weitere hunderte Millionen Inder, Mexikaner, Thais, Vietnamesen, Peruaner, Perser, Nigerianer und viele, viele andere. Kein anderes Gewürz hat eine größere Fangemeinschaft, für keines werden kontinentübergreifend rituelle Liebhaberwettbewerbe abgehalten und ein Konsumfetisch betrieben, wie man ihn allenfalls von Weinliebhabern kennt. Woher kommt dieser Hype? Es ist kaum bekannt, dass Chili vor 500 Jahren das erste globale Erfolgsprodukt der vorindustriellen Zeit war: Christopher Kolumbus stach 1492 in See, um in Indien Luxusgewürze wie Pfeffer, Zimt und Safran zu finden. In dem Glauben, tatsächlich am Subkontinent gelandet zu sein, stießen seine Seemänner auf den Antillen-Inseln vor den Bahamas dann auf Aji, die in Mittelamerika seit 6.000 Jahren für ihre durchblutungsfördernde Wirkung geschätzte rote Schote. Der Legende nach trank Aztekenkönig Moctezuma zur Potenzsteigerung 50 Becher Kakao mit Chili, bevor er seinen Harem betrat. Auch unter den Inkas und Mayas in Ecuador und Peru war Chili als Aphrodisiakum beliebt. Die Göttin Tlatlauhqui Cihuatl Ichilzintli – „ehrwürdige Herrin der kleinen roten Chilischote“ – wachte über das Wachstum der heiligen Pflanze, die indigene Völker auch gegen Zahnschmerzen und Arthrose sowie als Biowaffe einsetzten. Azteken bekämpften ihre Gegner, in dem sie große Mengen Chili rösteten und ihnen den beißenden Wind entgegentrieben – eine frühe Form von Reizgas. In Peru wurden diejenigen als Stammesführer gekürt, die die größten Mengen der scharfen Hochland-Chilis verdrücken konnten. Bis heute lutschen in Mexiko schon Kleinkinder klebrig-scharfe Tamarindenmasse, auch Fruchtsalat und Bier kommt nicht ohne Chili aus. Durchschnittlich ein Kilo Chili nimmt jeder Mexikaner im Monat zu sich. „Ohne Chili haben die Mexikaner nicht das Gefühl, zu essen“, schrieb der spanische Missionar Bartolomé de las Casas Anfang des 16. Jahrhunderts.
WARUM MACHT CHILI SÜCHTIG?
Nach der Rückkehr des Kolumbus war man in Europa von dem neuen Gewürz zunächst wenig begeistert. Am spanischen Hof wurden die Schoten als kuriose Gartendekoration angepflanzt. Dann aber ging es ganz schnell. Es waren die Portugiesen, die brasilianisches Chili binnen weniger Jahrzehnte bis nach Asien verbreiteten. Kein anderes Lebensmittel, auch nicht die Tomate oder die Kakaobohne, eroberte die Welt schneller. Warum Schärfe einen Teil der Menschheit süchtig macht und vom anderen als quälend empfunden wird, ist noch immer nicht geklärt. Manche Wissenschaftler führen schnöden Pragmatismus an: In heißen Weltgegenden finde Chili besonders weite Verbreitung, weil die antibakteriellen Kräfte und der hohe Vitamin C-Gehalt Fleisch, Fisch und andere leicht verderbliche Lebensmittel haltbarer macht. Chili steigert außerdem die Wärmeabfuhr des Körpers und hilft dabei, Hitze besser zu ertragen. Allein die Geographie kann jedoch nicht erklären, warum beispielsweise für Koreaner scharfes Kimchi ein Grundnahrungsmittel ist, es in der milden kantonesischen Küche in Südchina aber nicht vorkommt.
Aua! Juhu! Aua! Mehr davon!
Überzeugender sind Erklärungsversuche aus der Psychologie: Im Erlebnisfaktor ist der Unterschied zwischen einem New-Nordic-Cuisine-Menü – wie es etwa im Kopenhagener Restaurant Noma serviert wird – und einem mit Chilischoten durchtränkten Sichuan-Hotpot ungefähr wie der zwischen einem Glas Gurkenwasser und einem LSD-Trip. Denn scharf ist – im Gegensatz zu süß, sauer, salzig, bitter und umami – kein Geschmack. Scharf ist einerseits ein Aromakatalysator. Schärfe überlagert keine anderen Geschmäcker, sondern unterstreicht Gegensätze und komplexe Texturen, haben Neuropharmokologen herausgefunden. Sofern man es mit der Dosis nicht übertreibt, schmeckt alles intensiver und leuchtender.
KEIN TIER WÜRDE SCHARF ESSEN
Was aber eigentlich süchtig macht: Scharf ist nichts anderes als vorgetäuschter und gelernter Schmerz. Scharf sendet dem Körper zunächst nur das Signal: Gefahr! Capsaicin, der chemische Chili-Wirkstoff, triggert Schmerz- und Hitzerezeptoren – dabei ist weder die Zunge verletzt, noch ist es wirklich heißer geworden. Im Gehirn kommen die Signale als falscher Feueralarm an, und wie bei jedem anderen Schmerz setzt es als Gegenwehr Endorphine und körpereigene Opiate frei. Der Gaumen macht eine ambivalente Grenzerfahrung: Aua! Juhu! Aua! Mehr davon! „Benigner Masochismus“ beziehungsweise „hedonische Umkehrung“ hat der amerikanische Ernährungspsychologe Paul Rozin das Phänomen genannt. Aus Angst wird Erregung, aus Schmerz Glück. Bunjee-Jumper und Horrorfilmfans kennen dieses High genauso wie Leute, die sich gern beim Sex auspeitschen lassen. Es findet sich übrigens auf der Welt kein Tier, das Essensreste mit Chili anrühren würde. Die Lust am angenehmen Schauder hat der Mensch exklusiv: Dinge zu lieben, die eigentlich weh tun, so krank ist nur der Homo Sapiens.
Beitrag: Xifan Yang
Bild: Unsplash
Dieser Beitrag erschien in Fräulein Ausgabe 3/2018