Die Trump-Wahl zeigt es: Wir befinden uns in einer Blase. In unserer Parallelwelt, hier in Europa, war klar: Hillary gewinnt, komme was wolle. Abseits von der Politik gibt es noch andere Felder, die zeigen, dass wir gebildeten Mittelschichtmenschen uns mit Themen beschäftigen, die für andere Menschen so wenig Relevanz haben, wie für die meisten von uns die Frage ob wir die Miete diesen Monat bezahlen können. Etwa der Feminismus.
Individuell, ästhetisch, feministisch. Wir leben in einer Parallelwelt.
Geht man von seinem eigenen kleinen Facebook-Horizont aus, dann gibt es gerade zwei Themen, mit denen die Welt sich beschäftigt: die Amerika-Wahl und Feminismus. Tatsache ist, dass es weitaus mehr alleinerziehende Mütter gibt, die sich mit drei Jobs über Wasser halten, um die Familie zu ernähren, als solche, die Riots not diets-Shirts tragen.
Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz umschreibt die gerade stattfindende kulturelle Entwicklung mit dem Begriff „Ästhetisierung der Gesellschaft”. Fräulein-Autorin Alicja Schindler hat mit dem Wissenschaftler über die geschönte Blase, in der wir uns zwischen individueller Selbstoptimierung, Girlpower und dem perfekten Instagram-Bild wiederfinden, gesprochen.
Fräulein: Was bedeutet „Ästhetisierung der Gesellschaft”?
Andreas Reckwitz: Aisthesis bezeichnet die sinnliche Wahrnehmung. Ästhetisierung bedeutet also: in der Gesellschaft werden Objekte und Praktiken immer wichtiger, die existieren, um wahrgenommen zu werden, um die sinnliche Wahrnehmung anzuregen und anzuheizen. Ästhetisierung ist dabei immer mit Emotionen und Affekten verbunden: die Wahrnehmungen sind nicht neutral, sondern affektiv aufgeladen.
Das Feld, das sich klassischerweise in der Moderne um das Ästhetische kümmerte, war die Kunst. Aber mit der Ästhetisierung finden sich ästhetische Praktiken und Wahrnehmungen überall in der Gesellschaft: in den Medien, im Konsum und in der Ökonomie, in der Darstellung von Geschlechtern, in der Stadt, in der Politik. In der Gegenwartsgesellschaft bedeutet Ästhetisierung dabei mehr und mehr Produktästhetisierung: Das heißt, die Subjekte sind nicht mehr nur passiv betrachtende, sondern sie stellen auch selbst alltäglich ästhetische Produkte her. Zum Beispiel Fotos für Facebook und Instagram. Zum Beispiel die Stilisierung des eigenen Körpers. Zum Beispiel das ästhetische Verhältnis zum Essen, zum Wohnen, zum Reisen.
Sie arbeiten gerade an Ihrem neuen Buch mit dem vorläufigen Titel „Die Gesellschaft der Singularitäten“. Worum geht es darin?
Meine Grundthese ist, dass wir einen grundlegenden Wandel dessen erleben, was die Moderne, was die moderne Gesellschaft ausmacht. Wir waren gewohnt, die Moderne als Industriegesellschaft und als Rationalisierung zu begreifen und damit als die Ausbreitung einer Logik des Allgemeinen: austauschbare Subjekte und austauschbare Industriegüter, austauschbare Wohnungen, Volksparteien, Normalarbeitsverhältnisse. In der Spätmoderne erleben wir aber einen Paradigmenwechsel: zunehmend werden Dinge und Menschen, Orte und Ereignisse, schließlich auch Kollektive als besondere, einzigartige, nicht-austauschbare gewünscht, verfertigt und erwartet: Güter, Waren und Dienste erheben Einzigartigkeitsanspruch, Subjekte wollen und müssen originell sein – schon Kinder werden zur Selbstentfaltung erzogen. Orte ‚framen‘ sich als einzigartig, um Bewohner und Besucher anzuziehen, Events haben Zulauf und Kollektive sind dann anziehend, wenn sie ‚partikularistisch‘ sind: nationalistisch, regionalistisch, religiös etc. Die Frage ist, welche Ursachen und Folgen diese Prozesse der ‚Singularisierung‘ haben.
Im Moment lässt sich in Werbekampagnen der Trend hin zu „Imperfection“ (Achselhaare, Fettpolster, unperfekte Haut) und einem neuen, scheinbar „ausgeweiteten“ Schönheitsideal beobachten: Beispielsweise in der neuen H&M Kampagne, bei der Traces-Kampagne der Schuhmarke Zign oder bei dem Modelabel Monki. Die Werbung vermittelt den Eindruck, als ob alte Idealvorstellungen bröckeln und mehr Körperbilder gesellschaftlich respektiert würden. Lässt sich diese Entwicklung in der Werbebranche mit Ihrer Singularisierung und der Orientierung am kulturell und ästhetisch Neuen in Verbindung bringen?
Tatsächlich! Generell ist das Feld der Schönheit der Körper interessant. Natürlich finden Ästhetisierungsprozesse auch ganz vordergründig in Bezug auf die Formung ‚schöner‘, attraktiver Körper statt. Bei Frauen und Männern. Generell finde ich es zunächst bemerkenswert, dass das Feld der schönen Körper zunächst eines der wenigen ist, in denen offenbar noch Kriterien des Allgemeinen, also allgemeinverbindliche Normen in Bezug auf Ästhetisches existieren, allgemeine Schönheitsvorstellungen, man denke an die extreme Schlankheits- und Fitnessorientierung der spätmodernen Kultur. Die Tendenz zur Imperfection liefern hier tatsächlich eine Art aktuelle Gegentendenz der Singularisierung: die Individualität der Körper wird interessant. Es bleibt abzuwarten, wie stark dieser Trend sein wird.
Auf sozialen Foto-Plattformen wie Instagram werden gerade in bestimmten Kreisen von jungen Frauen massenweise feministische Slogans wie „Girlpower“, „Girlgang“ oder „Trust the Girls“ als Aufschrift auf T-Shirts oder als Hashtags gepostet. Immer mehr Blogs, Kollektive, Kunstausstellungen und Plattformen nehmen sich dem Thema des zeitgenössischen Feminismus an. Handelt es sich dabei aus Ihrer Sicht um einen Trend oder/und könnte dadurch eine tatsächlich tiefgreifende, politische und gesellschaftliche Bewegung angestoßen werden?
Aus meiner Sicht ist der Feminismus generell etwas, das mittlerweile den strukturellen Kern der Moderne grundlegend transformiert hat: die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Partizipation der Frauen, die kulturelle ‚diversity‘ sind hier elementare Transformationslinien. Der Feminismus ist hier ja keine oppositionelle Gegenbewegung mehr, sondern längst in den Institutionen angekommen. Zugleich aber ist die Entwicklung in der Spätmoderne paradox: einerseits die historisch neuen Chancen, etwa im Beruf, andererseits neue mehr oder minder subtile Zwänge für Frauen in der Spätmoderne: den Selbstoptimierungs- und Kreativitätsimperative sind Frauen besonders ausgesetzt (Angela MacRobbie hat jüngst noch einmal darauf hingewiesen), zum Beispiel was Schönheitsideale, was Symbiose von Beruf und Familie etc. angeht. Die ganz aktuellen feministischen Tendenzen scheinen mir auf diese neue Problemlage zu antworten.
Kreativität, Ästhetik und individuelle Selbstverwirklichung sind Begriffe, die man mit einem Menschen, der in Freiheit lebt, assoziiert. Ist das so – oder schnüren wir uns damit nicht eigentlich selbst ein Korsett von neuen Anforderungen? Auch beim Thema „Imperfection“ geht es doch eigentlich nicht darum, dass wir aussehen können wie wir wollen und gesellschaftlich genauso akzeptiert werden, sondern vielmehr darum, neue Muster zu schaffen, die auch wieder einem bestimmten, durch die Werbung propagierten, Kanon an „unperfekten Schönheiten“ entsprechen, oder?
Genau diese Paradoxie nehme ich wahr: Wenn ehemals minoritäre Ideale wie Selbstverwirklichung und Kreativität zu neuen Normen des gelungenen und erfolgreichen Lebens geworden sind, bedeuten sie nicht mehr nur Chancen, sondern auch neue Erwartungsstrukturen. Insofern eröffnet sich mit dem, was ich das spätmoderne ‚Kreativitätsdispositiv‘ nenne, kein reines Reich der Freiheit und der Möglichkeiten, sondern eine machtvolle Konstellation, mit der wir persönlich und politisch umgehen müssen.
Beitrag: Alicja Schindler
Fotos: Linke T-Shirts, Wikimedia (White House), Suhrkamp