Als wir die großartigen Kiss Cuts-Collagen des Münchner Künstlers MILEN TILL sahen, war es Liebe auf den ersten Blick. Weil zum Knutschen immer zwei gehören, baten wir unseren Autor Martin Simons, inspiriert davon, einen persönlichen Text über seinen ersten Kuss zu schreiben – und lernten: Wer seiner oder seinem Angebeteten gefallen will, der muss sofort aufs Ganze gehen.
Als wär’s das erste Mal
Man sollte annehmen, dass man mit dem ersten Kuss eine wichtige Schwelle überschreitet, an die man bis ins hohe Alter, vielleicht sogar bis zum letzten Atemzug zurückdenkt. Erinnert sich nicht jeder an seinen ersten Kuss? Vermutlich tun es die allermeisten. Doch ich erinnere mich nicht. Was weniger an meinem schlechten Gedächtnis als vielmehr daran liegt, dass mein erster Kuss irgendwie nie stattfand.
Das erste Mädchen, das ich wirklich küssen wollte, ging mit mir in denselben Kindergarten. K und ich wurden die Grundschulzeit über getrennt. Aber auf dem Gymnasium waren wir wieder vereint. Dieses lag von unserem kleinen Ort eine zwanzigminütige Busfahrt in die Kreisstadt entfernt.
Jeden Morgen ging ich auf meinem Weg zur Bushaltestelle bei K vorbei, klingelte, lief einige Hundert Meter selig neben ihr und nährte meine über die Jahre ins Absolute wachsende Verliebtheit. Irgendwie gehörten wir zusammen, das war uns wie allen anderen klar; gleichzeitig waren wir zu jung, um ein Paar zu sein.
Ich ahnte, wenn ich es nicht wagte, sie jetzt zu küssen, wäre es mit der romantischen Spannung zwischen uns vorbei. Zum ersten Mal spürte ich die Last, ein Mann zu sein.
So ging es bis zum Beginn unserer Teenagerzeit. Dann kam es zu einer Fahrt in ein Ferienlager am Fuß der italienischen Alpen, bei dem sowohl K als auch ich teilnahmen. Drei Wochen ohne Elternaufsicht, mit nichts zu tun, als im Fluss zu schwimmen, auf die Berge zu wandern, durch Wälder zu streifen. Das war für den entscheidenden nächsten Schritt die unmöglich auszulassende Gelegenheit.
Ich ahnte, wenn ich es nicht wagte, sie jetzt zu küssen, wäre es mit der romantischen Spannung zwischen uns vorbei. Zum ersten Mal spürte ich die Last, ein Mann zu sein. Denn natürlich wusste ich, was von mir erwartet wurde. Ich musste sie irgendwie auf eine eindeutig zärtliche Weise anfassen, umarmen, an mich ziehen, meine Lippen mit ihren Lippen zusammenbringen. So viel war klar. Aber die konkreten einzelnen Schritte lagen im Dunkeln der Unausdenklichkeit.
Wenn überhaupt, überlegte ich, traute ich mir die nötige Unerschrockenheit zu im Schutz der Dunkelheit. Und weiter, dachte ich, wäre es auch nicht verkehrt, würde sie den Kuss nicht kommen sehen.
Denn nichts fürchtete ich mehr als ihren vielleicht erschrockenen oder schlimmer: fassungslos belustigten Blick. Es lag nach solchen Überlegungen nahe, dass ich es für die richtige Strategie hielt, sie nachts im Schlaf zu überraschen. Dazu aber musste ich vom Jungenschlafsaal in den der Mädchen gelangen, ohne von den kaum älteren, für alle Gemeinheiten offenen Betreuern geschnappt und nach einem ungeschriebenen Straf-Kodex gequält zu werden. Zu den gängigen Züchtigungen zählte, neben halb ernsten Schlagritualen, nackt ausgezogen und bei plötzlichem Licht in den Schlafsaal der Mädchen geschubst zu werden.
Ich riskierte es trotzdem. Und gegen jede Wahrscheinlichkeit ging es beim ersten Mal gut. Ich erreichte den Mädchenschlafsaal, setzte mich bei K auf den Bettrand und wartete zwei Stunden mit hochschlagendem Herzen, ohne mich regen zu können. Ich verschwand unverrichteter Dinge. Nicht ganz unzufrieden. Immerhin hatte ich den ersten Schritt in die richtige Richtung unternommen, bildete ich mir ein. Doch als ich dann auch beim zweiten Mal wie erstarrt auf dem Bettrand saß, ihren Schlaf mit einem in den Ohren schlagenden Puls bewachte und darüber hinaus gar nichts tat, wusste ich, so konnte es nicht weitergehen. Ich schwor mir so fest, wie ich mir noch nie etwas geschworen hatte, in der dritten Nacht endlich aufs Ganze zu gehen, schaffte es tatsächlich erneut in den verbotenen Schlafsaal, gelangte an ihr Bett, beugte mich in Höhe ihres Kopfes im Stockdunklen hinunter, berührte mit der Wange ihr Haar, strich ihr mit meinem Atmen über die Schläfe, flüsterte ihren Namen, bemerkte, dass sie wach war, und vielleicht berührten sich sogar für einen Sekundenbruchteil unsere Lippen – doch sicher weiß ich nur, dass mit einem Mal das grelle Neonlicht anging und mir vier sadistisch veranlagte Betreuer lachend und feixend die Kleider vom Leib zerrten und mich vor den Augen aller Mädchen, darunter die beschämte K, nackt an Händen und Füßen aus dem Schlafsaal trugen.
Ich brauchte drei Tage, um mich innerlich wieder halbwegs aufzurichten – und gerade als ich mich in der Lage sah, eine finale nächtliche Exkursion zu wagen, musste ich erfahren, dass mir in der Zwischenzeit das Sport-Ass und der größte Mädchenschwarm zuvorgekommen war. Er hatte sich weniger dumm angestellt, war nachts zu K ins Bett geschlüpft, stellte mit ihr dort wer weiß was an und ging mit ihr nun den Rest der Ferien vor aller Augen Hand in Hand. Zwei Wochen bekam ich kaum noch einen Bissen herunter, und bei meiner Rückkehr schlug meine Mutter die Hände über dem Kopf zusammen, so dünn war ich geworden.
Es musste etwas geschehen. Um über meinen Liebeskummer hinwegzukommen, ließ ich mich von einem Freund überreden, mit auf den Geburtstag eines Jungen zu gehen, dessen Haus in der von uns immer mit ängstlichem Respekt vernommenen sogenannten Assi-Siedlung lag. Dieser fand in Form einer Knutsch-Party statt. Es waren sieben Jungen und sieben Mädchen eingeladen, die miteinander knutschen würden. Das war bereits vorher klar. Die Paare wurden vom Gastgeber bestimmt.
Die Musik ging an, und noch bevor ich so richtig aus dem Staunen heraus war, rührte die kleine harte Zunge meines Mädchens eifrig wie ein Zementmischer in meinem Mund herum.
An einem frühen Samstagabend stieg ich also die Treppe in den holzvertäfelten, von Bierdeckeln und Tierfellen geschmückten Partykeller hinab und begegnete dem mir zugewiesenen Mädchen. Es war klein, elf und trug als Kettenanhänger einen Babyschnuller vor ihrer flachen Brust. Immerhin schien ihr Gesicht ganz niedlich. Allerdings war das im Zwielicht des Partykellers nicht wirklich zu beurteilen. Der Gastgeber hatte aus Decken und Kissen sieben Lager vorbereitet, auf denen man sogleich niedersank. Irgendjemand zählte einen Countdown hinab, die Musik ging an, und noch bevor ich so richtig aus dem Staunen heraus war, rührte die kleine harte Zunge meines Mädchens eifrig wie ein Zementmischer in meinem Mund herum.
Ich war zu perplex, um nicht mitzumachen. Und so rangen unsere Zungen tapfer und monoton die Dauer von zwei neunzigminütigen Mixtapes miteinander. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob und was ich dabei empfand. Gewiss war mir langweilig. Ich äugte umher, betrachtete aus viel zu großer Nähe das Haar meiner an mir wie festgesaugten Partnerin und nahm mit Verwunderung und großer Ehrfurcht zur Kenntnis, dass der direkt neben mir knutschende Gastgeber es mit seinem Kopf unter das Oberteil seines Mädchens geschafft hatte und dort laute, für meine damaligen unerfahrenen Ohren eindrücklich und glaubwürdig klingende Grunzlaute des Wohlbefindens hören ließ. Aber dann ging mal wieder ein grelles Licht an, und die Mutter des Geburtstagskinds erklärte die Party schreiend für beendet. Ich war erleichtert, hätte mir aber gerne noch das Mädchen, deren Zunge in mir so unermüdlich gerührt hatte, wenigstens einmal richtig angesehen. Aber sie war bereits mit einer Freundin die Treppe hinauf und wer weiß wohin verschwunden. Ich habe sie nie wieder getroffen.
Am nächsten Morgen saß ich mit geschwollenen, knallroten und wunden Lippen am Frühstückstisch. Meine Eltern begriffen, lachten und schienen stolz. Als sie mich fragten, ob ich geküsst hätte, nickte ich stumm, dabei fühlte es sich überhaupt nicht so an.
Beitrag: Martin Simons
Collagen: Milen Till
Dieser Text erschien zuerst in Fräulein-Ausgabe Nr. 3/2017