Choker, Baretts und das Revival der 80s-Shoulders: Wir nehmen die Welt immer häufiger nur noch durch den vertikalen Ausschnitt unseres Smartphone-Displays wahr. Das verändert auch die Mode – ihr Fokus wird enger, Details rücken in den Vordergrund. Sind wir vom großen Ganzen überfordert?
Es geht uns an den Kragen
„All hail, Mylady“ möchte man ausrufen, wirft man einen Blick auf vergangene und aktuelle Kollektionen von Dolce & Gabbana, Alexander McQueen oder Valentino. Denn sie lassen uns denken, wir wären geradewegs in eine Audienz bei Elisabeth der Großen gestolpert. Weiße Krägen, die bis knapp unter das Kinn reichen, bestickte Puffärmel, schwerer Schmuck, der sich eng um die Hälse legt. Dazu schimmernde Bänder, Schleifen und Hauben in den Haaren der Models.
Diese Art von Aufmachung kannten wir bisher nur aus ehrwürdigen Museen, wo von hohen Wänden milchweiße Gesichter hochmütig auf uns herab blickten. Seit ihrer Entstehung in der Antike funktionierte Porträtmalerei viele Jahrhunderte lang so. Ein Gemälde sollte Persönlichkeit, Schönheit, vor allem aber den Status eines Menschen zeigen. Maler zoomten möglichst nahe an den Porträtierten heran, um nur ja jede Raf nesse der Kleidung, jedes kostbare Schmuckstück, das den Reichtum seines Trägers zur Schau stellte, zu erfassen. Der Porträtierte stand im Mittelpunkt, seine Umgebung verblasste neben ihm. Allenfalls war im Hintergrund noch ein wenig Kulisse, etwas Landschaft zu erkennen.
Zwar existiert diese klassische Porträtmalerei heute kaum noch, ihre Perspektive aber ist aktuell. Denn was sehen wir, wenn wir stundenlang durch Instagram-Feeds oder Facebook scrollen oder uns Snapchat-Videos anschauen? Abertausende Nahaufnahmen und Selfies von Personen, die sich ihr Smartphone vor das Gesicht halten, den Arm schmerzhaft durchgestreckt, um uns die beste
und schönste Version ihrer selbst zu präsentieren. Ihre Gesichter sind nicht mehr aus milchig-weißer Ölfarbe, sondern aus gestochen scharfen Pixeln, mal durch Katzenohr-, mal durch Blumenkranzfilter verfremdet. Entscheidend aber ist, dass wir andere Menschen heute in exakt demselben Ausschnitt sehen, den wir aus der Malerei kennen: Fokus auf Gesicht und Oberkörper, das Bild auf Höhe der Brust abgeschnitten.
In Zeiten, in denen wir so schnell durch eine Flut von Bildern scrollen, dass sie vor unseren Augen beinahe verschwimmen und Videos nur wenige Sekunden dauern, ist keine Zeit für ein sich Hineindenken.
Unsere Sehgewohnheiten verändern sich und damit auch die Mode, sagt die Trendforscherin Lidewij Edelkoort. Die 67-Jährige ist eine Koryphäe ihres Fachs, ihr Wort ist Gold wert in der Modebranche, weil sie dank ihrer Beobachtungsgabe aus tausenden kleinen Eindrücken große Schlüsse zieht. Ihre These: während die Bildschirme von einst – wie die von TV oder Laptop – horizontal ausgerichtet waren und uns einen möglichst weiten Blick ermöglichen wollten, ist das Display unserer Smartphones vertikal. So nehmen wir Fotos oder Videos auf und schicken sie weiter – wir halten nicht mehr inne, um das Handy eventuell in die Waagerechte zu drehen. Unser Blick ist dadurch enger geworden, die Umgebung eines Motivs wird unwichtig. Details rücken in den Vordergrund. Weil uns der Rest verborgen bleibt, wird in Zukunft das, was im Bildausschnitt eines Smartphone-Fotos Platz ndet, stellvertretend für unser gesamtes Kleid, unser gesamtes Outfit stehen müssen. Die Kopf-, Hals- und Schulterpartie wird dadurch mehr in den Mittelpunkt rücken. Denn sie ist alles, was wir zu sehen bekommen. Die Folge: wir setzen wieder vermehrt auf Elemente, wie wir sie – natürlich nicht nur, aber insbesondere – aus der Garderobe des Mittelalters oder der Renaissance kennen: aufwändige, hohe Krägen samt Rüschen und anderen Verzierungen, eng anliegender Schmuck, Korsette, Aufpolsterungen und Kopfbedeckungen. Auch aktuelle Trends wie Choker, Baretts und das Revival der 80s-Shoulders lassen sich – wenngleich mit einem völlig anderen historischen Hintergrund – diesem Phänomen zuordnen.
Generell gilt: Je opulenter und aussagekräftiger das Outfit im kleinen Bildausschnitt erscheint, desto besser. In Zeiten, in denen wir so schnell durch eine Flut von Bildern scrollen, dass sie vor unseren Augen beinahe verschwimmen und Videos nur wenige Sekunden dauern, ist keine Zeit für ein sich Hineindenken. Alles muss auf den ersten flüchtigen Blick hin erkannt und eingeordnet werden können. Komplexe Schnittführungen und Silhouetten, wie wir sie beispielsweise von den japanischen Avantgarde-Designern der 90er-Jahre kennen, gehen heutzutage unter. Erst recht, wenn die Entwürfe in Schwarz gehalten sind, das auf dem Bildschirm zu einer eintönigen Fläche verblasst. Denn statt beim tatsächlichen Sich-Gegenüber-Stehen muss Mode heute vor allem auf dem Display – also in der Zweidimensionalität – und vor allem im richtigen Bildausschnitt überwältigen. Lidewij Edelkoort geht sogar noch einen Schritt weiter und vermutet dahinter eine psychologische Reaktion auf die unruhige Zeit, in der wir leben: Wir wollen uns wieder mehr auf Details fokussieren und das große (überfordernde) Ganze am liebsten ausblenden.
Text: Ann-Kathrin Riedl