La Boum ist für Generationen von Teenagern zum Kultfilm geworden. Das liegt vor allem an der Sensibilität, mit der er seine Figuren zeichnet. Die Geschichte der ersten Liebe der 13-jährigen Vic im Paris der 80er-Jahre erzählt von dem Glauben, dass Liebe etwas Gutes ist. Wenn auch nur für kurze Zeit.
Alles wird gut
Das erste, was einem auffällt, wenn man La Boum nach vielen Jahren noch einmal schaut: Wieviel sich geändert hat. In La Boum gibt es noch kein Instagram, kein Facebook, kein iPhone, keine SMS und kein Internet – ja, noch nicht mal einen Computer. La Boum heute zu sehen, das ist ein wenig, als folge man dem weißen Kaninchen in Alice im Wunderland. Sobald der Vorspann läuft und die Kamera über die Dächer von Paris schwenkt, landet man in einer unschuldigen Zeit, in der die Digitalisierung noch nicht den Alltag im Griff hatte, genau so wenig wie der Finanzkapitalismus die Pariser Wohnungspreise. Man taucht ein in eine Welt der Festnetztelefone, die stundenlang besetzt sind und in der man nicht ständig erreichbar war. Das hatte – so zeigt der Film – eine Menge praktischer Vorteile, denn für eine gewisse Zeit, ein Wochenende oder eben eine Party lang – herrschte Ruhe, wenn man wollte. Da war der Moment, in dem man tatsächlich alles vergessen konnte, was um einen herum passierte.
So zum Beispiel auf der ersten großen Party, auf die Vic, gespielt von Sophie Marceau, geht. Die will erst noch nicht so richtig losgehen. Vic langweilt sich, ruft ihre Eltern an und bittet sie, sie viel früher als geplant abzuholen. Während ihre Eltern aber vor der Tür im Auto warten und verzweifelt versuchen, per Telefonzelle in der Wohnung anzurufen, in der die Party stattfindet, trifft Vic doch den Typen, auf den sie gehofft hat. Den gutaussehenden Mathieu.
Kurz darauf passiert eine der schönsten Filmszenen, die jemals gedreht wurden. Nachdem sie sich vorher nur kurz und im Vorbeigehen flüchtig begegnet sind, tritt Mathieu von hinten an Vic heran und legt ihr die Kopfhörer eines Walkman über die Ohren, der Richard Sanderson „Reality“ spielt, das Titelstück des Films, einer der größten Hits der 80er und bis in alle Ewigkeit der Song für Träumer und Frischverliebte. Vic dreht sich um und tanz Klammerblues (nennt man das heute noch so?) mit Mathieu. Die Scheinwerfer flackern in Rot, Grün und Blau, die Tanzfläche tobt. Vic legt die Arme um Mathieu, und beide fallen für die Zeit des Songs aus der einen in eine andere, neue, intime Welt, die nur ihnen beiden gehört.
Es ist das Tolle an La Boum, dass sich Regisseur Claude Pinoteau und Drehbuchautorin Danièle Thompson nie in der Tragik der modernen Welt suhlen, also sich zum Beispiel darin zu ergehen, zu erzählen, wie schwierig es für bürgerlich lebende Großstädter ist, langfristig verbindliche Beziehungen aufrechtzuerhalten. Quasi im Handstreich wischen sie das Gesamtwerk von Michelangelo Antonioni beiseite und wenden eben jene Lebensumstände mit leichtfüßiger Eleganz ins Positive. Die Eltern von Vics Klassenkameraden sind nahezu alle geschieden oder leben getrennt, was die Kids aber für absolut normal halten. Vics Eltern betrügen sich, aber finden wieder zusammen. Und dann ist da Vics engste Vertraute im Film, die freiheitsliebende, alleinlebende Urgroßmutter Poupette, eine Harfenistin, die am liebsten nackt schläft und mit 90 flirtet, als wäre sie Anfang 20.
Die Sensibilität, mit der diese Charaktere und ihr Verhältnis zueinander gezeichnet werden, ist nie kitschig. La Boum ist in dieser Hinsicht ein absolut unzynisches, optimistisches Denkmal für das liberale französische Bürgertum nach 1968 – das völlig ohne Hysterie, Sentimentalität und ideologische Engstirnigkeit auskommt. Die Werte, die der Film vermittelt – dass man sich verzeihen kann, dass man im Leben nicht immer das Richtige tut, aber dass das auch OK ist und Konflikte sich durch einen toleranten, verständnisvollen Umgang lösen lassen –, die sind noch genau so aktuell wie damals. Man kann sogar sagen, dass La Boum dazu beigetragen hat, sie durchzusetzen. Deshalb wirkt der Film auch heute noch wie ein modernes Märchen, das zeitlos geworden ist. Egal, ob man den Begriff Klammerblues noch kennt oder nicht. Gerade die Abwesenheit der technologischen Gadgets macht erst möglich, dass man sich auf das Wesentliche konzentriert: Was Liebe bedeutet.
Das gilt natürlich vor allem für Vic, perfekt verkörpert durch die Schauspielerin Sophie Marceau. Für sie beginnt in La Boum das seltsame Spiel, das man Liebe nennt. Anhand ihrer Beziehung zu Mathieu durchlebt sie zum ersten Mal all die Phasen, die man auch als Erwachsener immer wieder erlebt. Nur eben intensiver als später im Leben – vielleicht aber auch nicht. Sie will ihn, dann zeigt er ihr die kalte Schulter und sie tut so, als ob sie ihn nicht mehr will. Dann macht sie ihn in der Rollschuhdisco mit ihrem eigenen Vater eifersüchtig und am Ende, nachdem viele Tränen geflossen sind und Mathieu ihren Vater verprügelt hat, wird alles gut. Irgendwie zumindest.
Denn eigentlich ist Mathieu natürlich nur der Anfang. Das zeigt die zweitschönste Szene in diesem Film. Vic sieht – diesmal auf ihrer eigenen Party – einen Typen durch die Tür kommen. Die Blicke treffen sich. Ohne miteinander zu reden gehen sie aufeinander zu und tanzen. Mathieu hat sie gerade davonziehen lassen. Während sie also dem neuen, etwas älterem Typ in den Armen liegt, friert das Bild auf ihrem Gesicht ein. Das schaut sehnsuchtsvoll nach oben. Jetzt aber nicht mehr unbedarft und unschuldig, sondern ungeduldig und hungrig. Für Vic ist die Liebe, das Begehren, die Sexualität – wie auch immer man das nennen will – in ihr Leben getreten. In der Welt von La Boum bedeutet das vor allem etwas Gutes, weil in ihr niemand tief fällt und sich alles zum Guten wendet. Und warum sollte es nicht im echten Leben genau so sein? Realistisch betrachtet: Manchmal, nicht oft, aber doch immer wieder erleben wir Momente, in denen Träume Wirklichkeit werden. Wenn man glücklich verliebt ist zum Beispiel. Und dass es das geben kann, und Generationen von Teenagern aus diesem Film immer wieder aufs Neue lernen können, dass Liebe für einen kurzen Moment glücklich machen kann und dass man die Schmerzen überlebt, wenn sie zerbricht, das ist die kaum zu überschätzende Leistung dieses Films. Das Grundvertrauen zu vermitteln, dass alles gut werden kann, auch wenn man nicht mehr daran glauben wollte.
Text: Hendrik Lakeberg
Bild: Paramount Home Entertainment via Amazon
Der Text ist erstmals in der Numéro Berlin No.2 erschienen.